Lusti hat geschrieben: ↑06.04.2022, 17:56
Huhn oder Ei? Deine Prämisse: wohlhabende Staaten mit gutem Sozialsystem = tendenziell Sakulär
Merke grad, dass ich hätte «Wohlhabende Staaten mit funktionierender Demokratie und gutem Sozialsystem» schreiben sollen. Quasi der aus der Bevölkerung bestehende Staat, der sich selbst und seiner Bevölkerung Sorge trägt.
Huhn oder Ei? Gute Frage.
Früher gab es das Narrativ, dass ein Mensch mit Gottes Segen zu Recht über ein Volk herrschen darf. Oder tribalistisch formuliert: ein Häuptling hat das Recht über einen Stamm zu herrschen. Mit dieser Geschichte hat ein Stamm Erfolg, weil er gegen andere Stämme kämpfen und ihnen so den eigenen Willen aufzwängen darf. Weil das Konzept der
berechtigten Herrschaft ein konstituierendes Element dieses Stamms darstellt.
Indem man als Stamm die alten Narrative über Bord warf (Aufklärung, Bildersturm, Französische Revolution) entledigte man sich von Königen, Aberglauben und Religion. Spannend ist, wie stark man auch das Konzept der berechtigter Herrschaft abgelegt hat. Welche Geschichte das an die Stelle des alten Narrativs tretende neue erzählt. Dass der Stamm für sich selber verantwortlich ist oder dass er von jemandem wie Robespierre beschützt werden muss?
Ich glaube, wir haben das Konzept von Anspruch, Herrschaft, Besitz, etc. nie vollumfänglich überwunden, aber je mehr wir es ablegen konnten (funktionierende Demokratie, gutes Sozialsystem), desto sorgenfreier kann die Gesellschaft leben.
Lusti hat geschrieben: ↑06.04.2022, 17:56Ich glaube beides (Wohlstand & Sakularismus) sind Produkte einer offenen Gesellschaft welche freie Meinung garantiert UND allen Menschen unveräusserliche Grundrechte einräumt. Ich habe folgendes Zitat gehört: "The internet is the place, where religions come to die". In dem Moment in dem ein offener Diskurs über die Ideen der Weltreligionen geführt wird, beginnt Theologie zu sterben. In diesem Raum der freien Meinungsäusserung wird aber zum Teil auch das gegenteil passieren, dass nämlich Menschen mit sehr geringem Wissen eine Plattform geboten wird, in welcher sie exakt den narrativ widerfinden, welchem sie so gerne folgen würden. Stichwort: Selbstbestätigung.
«The internet is the place, where religions come to die» der offene Diskurs ist sicher die benötigte Basis, aber der Tod der Theologie tritt nicht sofort ein. Die Religionen, respektive die Rechtfertigungen für Beherrschung sind so eng mit unserer Lebensweise und Kulturgeschichte verflochten, dass es ein langwieriger von Krämpfen und Zuckungen begleiteter Tod sein wird. Ich glaube, dass die extremen Polarisationen, welche wir zur Zeit erleben, Ausdruck des Beginnenden Sterbens sind.
Ich sehe sogar in Putins Gebahren den Ausdruck des sterbenden autokratischen Systems in Russland, dabei richtet es in seinem Todeskampf unnötig viel Schaden an.
Lusti hat geschrieben: ↑06.04.2022, 17:56Aber der Dialog ist offen, die Ideen werden diskutiert, es gibt mehr als genug Youtuber die mit Gegendarstellungen glänzen und auch davon Leben. Die Flachwelter haben diese Schmach bereits erlebt, die Impfgegner erleben ihn auch und auch die Pro-Russen werden ihr Waterloo noch sehen. Unabhängig davon wird es den harten Kern immer geben. Menschen die sich mit Verschwörungstheorien bereichern (infowars) und diejenigen die den Mist auch wirklich glauben.
Wie gesagt: Wer sich von der Welt der Fakten getrennt hat, ist dazu verdammt, seine Lebensentscheide aufgrund falscher Grundlagen zu treffen. Obwohl ich den primären psychologischen Fluchtreflex verstehe, so ist das verweilen in diesem Zustand über die Zeit destruktiv. Nicht für die Gesellschaft, aber für das betroffene Individuum.
Ich finde es harmlos, wenn jemand an den bärtigen liebevollen Gott auf einer Wolke glaubt, weil diese Vorstellung so dermassen absurd ist, dass man sich leicht wieder davon lösen kann und ihn nur aufsucht, wenn man Trost und Halt braucht. Hingegen halte ich es für gefährlich, wenn man sich für die letzt Christliche Bastion im Kampf gegen die Horden von Islamisten hält, weil man in diesem Glauben ein Held ist und Sinn erfährt, während man in der realen Welt ein schlecht bezahlter, hochverschuldeter Trucker mit miserablen Arbeitsbedingungen ist. Da ist einfach die Gefahr zu gross, keinen vernünftigen Grund einzusehen, in die sorgenvolle Realität zurückzukehren.
Beide Beispiele beziehen sich auf das gleiche Buch, erzählen aber komplett andere Geschichten. Schwierig ist es halt zu differenzieren, weil die Ausgangslage die gleiche ist und die Übergänge fliessend sind.
Lusti hat geschrieben: ↑06.04.2022, 17:56Ich kann das am eigenen Beispiel beschreiben, ohne hier einen auf mimimi machen zu wollen: Mein Vater ist vor 4 Monaten gestorben. Plötzlicher Herztod, Freitag noch gelabert, am Montag tot. Der primäre Reflex war: Das kann nicht wahr sein, Verleugnung. Aber die Wahrheit ist, was die Fakten diktieren. Das verweilen in diesem Zustand war Anfangs ein Schutzmechanismus, gut für die Psyche und Zeit um sich der Tatsache "anzunähern". Aber es kommt dieser Zeitpunkt (bei mir wars nach ca. 3 Wochen) an dem man sich der fatalen Realität stellen muss. Manchmal ist Realität eine Droge, die man am besten in kleinen Dosen verabreicht bekommt. Aber es ist wichtig, sich dieser Realität auszusetzen, den Schmerz über Verlust, die eigene Unvollkommenheit oder über die Selbsttäuschen annehmen und lernen diesen zu akzeptieren.
Mein herzliches Beileid zum Tod deines Vaters. Ich kenne diesen Reflex nur all zu gut. Als bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert wurde, als es ihr schlechter ging und als sie schlussendlich starb. Ich habe aber weniger ihren Tod ausgeblendet, sondern habe meine Trauer über den Verlust verleugnet, um dem damit verbunden Schmerz lange aus dem Weg zu gehen. Ich stimme dir zu. Schmerz ist im Gegensatz zu Angst ein guter Indikator für die Realität, auch jene der Gefühle.
Lusti hat geschrieben: ↑06.04.2022, 17:56und so konnte und kann ich Verschwörungsanhänger anfangs verstehen. Die Realität ist manchmal eine Schlampe und die Psyche und der Verstand haben ein Anrecht darauf, einige Zeit davon Abstand zu nehmen. Aber dann muss dieses auseinandersetzen mit Gegenargumenten und Fakten beginnen. Diese Menschen wählen den kurzfristig leichten weg und sie bezahlen auf der langen Bank einen unglaublich hohen Preis dafür.
Es gibt auch Dinge, da bleibe ich sehr gerne in der Vorstellung eines Glaubens hängen, als mich an die wissenschaftlichen Fakten zu halten. Ich glaube nicht, dass ich mir schade, wenn ich mir einbilde, dass ich eine Frau oder den FCB liebe, statt mir ständig vor Augen zu führen, dass es sich um biochemische oder gruppendynamische Prozesse handelt.