Lusti hat geschrieben:Ich lasse das Beispiel mal aussenvor, da die Voraussetzungen da etwas anders gelagert sind.
Schade, dort ginge es um Prinzipien. Und man hätte sich nicht um Details kümmern müssen.
Lusti hat geschrieben:Im Endeffekt haben Notstandsgesetze und Verordnungen exakt den Beigeschmack, dass sie individuelle Freiheiten auch aufgrund mangelnder Beweislage möglich machen, sprich dass man die erwünschte Wirkung als gegeben voraussetzt und die entsprechende Ursache bekämpft. Dies ist sinnvoll wenn man zeitkritisch entscheiden muss.
Was ist also die erwünschte Wirkung. Dies ist die langsame Durchseuchung der Gesellschaft. Dies als Gegenmassnahme zur Überlastung des Gesundheitswesens. Danach folgt die Berechnung:
- Mortalität gewisser Entitäten, Gruppen, Teilmengen oder wie man das immer benennen möchte
- Behandlungsintesität um die Mortalität zu senken
- Verfügbare Mittel für diese Behandlungsintensität
- Massnahmen zum Schutz, Verfügbarkeit dieser Mittel über eine Zeitachse
Jetzt weiss man:
- Die Durchseuchung kann stattfinden, da die Mortalität beim grössten Teil der Bevölkerung akzeptabel und beherrschbar ist. Anders würde es aussehen, wenn über die gesamte Gesellschaft 10% sterben würden.
- Die Identifikation der Risikogruppen (hier Vorerkrankungen, Immunschwache, Alte). Würde eine schnelle Durchseuchung bei dieser Gruppe stattfinden, sind bei vielen Kranheitsverläufen therapiemassnahmen notwendig, für die meisten ausserhalb der Risikogruppe ist der Krankheitsverlauf therapielos beherrschbar
- dedizierte Isolation dieser Risikogruppen, da deren schnelle Durchseuchung unmittelbar zur Auslastung des Gesundheitssystems und dessen Ressourcen führen, was wiederum die Therapie schwerer Krankheitsverläufe bei nicht-Risikogruppen erschweren oder verhindern würde.
All diese Massnahme haben ein Ziel: Den Zustand zu verhindern, dass Ärze entscheiden müssten, Risikopatienten mit schlechten Therapieaussichten und eventuell kurzer Lebenserwartung von der Maschine zu nehmen, um andere mit höheren Chancen die Therapie zu ermöglichen.
Somit ist die Entscheidung Risikogruppen zu isolieren ein faktisch begründeter, nachvollziehbarer Entscheid auch zugunsten dieser Patienten. Im Gesamkontext ist es auch ein Entscheid für alle anderen. Es wird eine Minderheit isoliert, eine Mehrheit kann wieder normal leben, die Durchseuchung findet kontrolliert statt was im Endeffekt dazu führt, dass eine Herdenimmunität entsteht und ALLE schneller zu einem geordneten Alltag frei von Einschränkungen zurückkehren können.
Ich stimme dir im Grossen und Ganzen zu. Auf einzelne Details, wo ich anderer Meinung bin, gehe ich nicht ein, damit mehr Aufmerksamkeit für den meiner Meinung nach wichtigen Punkt besteht:
Das Resultat stimmt, aber die Methode (und deren Herleitung) nicht. Es ist mir zu einfach, wenn man mal rasch die Regeln bricht, um ein gewünschtes Resultat mittels falscher Methode zu rechtfertigen. Das würdest du im wissenschaftlichen Kontext auch nicht für korrekt befinden, oder? Ich sehe das richtige Resultat, möchte aber auf einen anderen Weg, als die von dir vorgeschlagene Methode (Zwang) aufmerksam machen. Indem man die Perspektiven ändert und die gleiche Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, erkennt man eine neue Ansicht des Sachverhaltes.
Wie bringt man alle Teile des Systems dazu, sich freiwillig so zu verhalten, dass das von dir vorgeschlagene Resultat ohne Bruch der bestehenden Regel funktioniert? Das entspricht doch dem, wie sich eine wissenschaftliche Theorie verfestigen kann?
Lusti hat geschrieben:Die moralischen Abwägungen deinerseits sind keinesfalls falsch, jedoch gewichten sie falsch. Du suchst den Präzendenzfall der nicht existiert. Schlechte Entscheidungen führen zu letzten Entscheidungen und die höhere Gewichtung der individuellen Freiheiten gegenüber der kontrollierten Durchseuchung mag zwar moralisch überlegen wirken, nur wird sie die aktuelle Lage verschlechtern. Und so bleibt der fade Beigeschmack dass solche Massnahmen durchaus diskutabel sind, die Realität fordert diese aber ein und eine Nichtumsetzung solcher Massnahmen führt im Endeffekt zu einem Zustand, der moralisch kaum noch zu begründen ist.
Ich suche nicht den Präzedenzfall. Ich versuche einen zu verhindern.
Wie gross zieht man die Perspektive für Zusammenhänge auf?
Die Perspektive kann sehr eng sein: Keine direkte Gefährdung anderer durch die Risikogruppe.
Die Perspektive kann etwas weiter sein: Indirekte Gefährdung anderer durch die Risikogruppe. (entspricht deinem Ansatz)
Die Perspektive kann aber auch noch weiter sein: Wer gefährdet andere indirekt durch …
- geschwächte Immunsysteme wegen zu wenig frei verfügbarer Zeit?
- Vorerkrankungen wegen Umweltbelastung?
- die rasche Verbreitung und das pandemische Ausmass?
- Sparmassnahmen und Kostendruck?
- die Notwendigkeit von hoher Mobilität für die Existenzsicherung?
- Überalterung durch Hochleistungsmedizin
- etc.
Ich möchte diese Punkte nicht wertend aufzählen, sondern lediglich ihre ebenfalls indirekten Zusammenhänge aufzeigen.
Wie legen wir also fest, wie weit wir die Perspektive öffnen und von welchem Blickpunkt aus wir das Problem betrachten und lösen wollen?
Meiner Meinung nach kann dies nur über eine Wertedebatte getan werden.
Diese haben wir geführt und in der Verfassung festgehalten.
Ich sehe es gleich, dass die Risikogruppen sich anders verhalten, ist ein Teil der optimalen Lösung und diese ist auch viel dringlicher, weil ihr Verhalten der Krise zeitlich näher steht. Soweit bin ich bei dir. Aber schon in der Art des «sich anders Verhaltens» sehe ich verschiedene Möglichkeiten. Ob dies nun im Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen liegt (Baselbieter Altersheime) oder im Verzicht auf Freiheiten, sollte die Menschen aber frei wählen können. Wie bringt man sie jetzt dazu, sich freiwillig als Teil des Systems zu sehen und seine Anteil beizutragen?
Zwang scheint nicht die einzige Lösung zu sein. Es gibt ja schon Menschen, die sich freiwillig anders verhalten und zu verzichten bereit sind (jeder auf was anderes). Wie kann man den Anteil erhöhen? Ich glaube, dass dies gelingt, indem man sich selbst fragt, was wesentlich, was unwesentlich ist und sich bereit erklärt, selbst auf einiges oder alles Unwesentliche zu verzichten.
Wie ich dich in diesem Forum kennengelernt habe und dafür auch sehr schätze, hast du ein ausserordentlich feines Gespür für Ethik und hältst diese sehr hoch. Dass irgendwann auch der Moment kommt, wo man die Gesellschaft zu ihrem Wohl zwingen muss, mag vielleicht stimmen. Aber ist es wirklich schon so weit, dass man zur Erreichung des guten Resultates eine Regel brechen muss?
Momentan verhindert Egoismus (nicht alle sind bereit auf etwas zu verzichten), dass die Teile des Systems sich optimal (für das Resultat) verhalten. Sollen nun ausgerechnet die Regeln der Solidarität und Gleichheit, welche ja zum Schutz vor Egoismus installiert wurden, aus (kollektiv-)egoistischen Gründen gebrochen werden? Wie würde dieser Präzedenzfall den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflussen? Wie den Glauben an die Grundrechte bewahren können?