Taratonga hat geschrieben:Ich stelle meine Frage mal hier rein, obwohl mich die Antwort von Nicht-Juristen viel mehr interessiert:
Im neuen „Spiegel“ ist ein Artikel zu lesen, der sich damit beschäftigt, dass Du in Deutschland (bei uns wird es nur unwesentlich anders gehandhabt werden), jemanden im Vollsuff (oder Drogenrausch), halb tot prügeln kannst, oder gerne auch ganz umbringen, ohne, dass Du eine empfindliche, langjährige Haftstrafe zu befürchten hast. Da ist sogar von bedingten Jugendstrafen zu lesen, nachdem einer mit über 2 Promille einem völlig Unbeteiligten in den Kopf getreten hat, nachdem er diesen vom Fahrrad gerissen hatte. Das Opfer lag wochenlang im Koma und ist heute behindert. Oder der Erntehelfer 45, der vorher noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, völlig unvermittelt seinen Chef mit 25 Messerstichen abgeschlachtet hat. Dies nach 8 Flaschen Bier und 4 Doppelkorn, obwohl er doch gar keinen Alkohol gewohnt war. Es wurde zu lächerlichen 5 Jahren verurteilt, das Strafmass hätte auch auf Mord, lebenslänglich, lauten können.
Wie seht Ihr diesen extremen „Suff/Drogen-Bonus“? Gerecht oder nur ein Freipass um üble Taten zu beschönigen?
P.S: in D wird scheinbar jede 4. Straftat unter Drogeneinfluss, bzw im Suff, verübt
Eine Frage, die m.E. in Verbindung mit dem Strafrecht sehr oft auftaucht. Aber auch hier: es kommt immer auf den Einzelfall drauf an.
Es reicht nicht aus, wenn jemand tatbestandsmässig und rechtswidrig gehandelt hat um eine Bestrafung zu rechtfertigen. Vielmehr setzt der mit der Strafe verbundene persönliche Vorwurf voraus, dass der Täter für sein Verhalten
verantwortlich gemacht werden kann. Damit die Schuld gegeben ist, bedarf es gewisse Gesichtspunkte, die geprüft werden müssen. In den oben genannten Fällen wäre wahrscheinlich die
actio libera in causa am ehesten zutreffend. In diesem Fall plant der (noch) schuldfähige Täter das spätere Delikt und trinkt sich beispielsweise vor der Ausführung Mut an, wobei er damit rechnet, seine Schuldfähigkeit einzubüssen oder zu vermindern. Ähnlich ist es, wenn er immerhin in Kauf nimmt, er könne ein bestimmtes Delikt begehen und sich trotzdem betrinkt. Komplexer ist es dann, wenn der Täter in den Rausch "hineinschlittert", also nicht damit rechnet, dass er seine Schuldfähigkeit beeinträchtigen könnte, dies aber immerhin voraussehen gewesen wäre.
Bei der (vorsätzlichen) actio libera in causa ist der Täter zwar in dem Zeitpunkt, in dem er die eigentliche Tathandlung vornimmt, nicht oder doch nicht voll schuldfähig. Er stellt aber die Weichen für den ins Delikt führenden Geschehensablauf schon in dem Zeitpunkt, in dem er noch uneingeschränkt verantwortlich ist, ganz ebenso, wie wenn er einen Schuldunfähigen oder vermindert Schuldfähigen zur Begehung eines Deliktes veranlassen oder sonst daran mitwirken würde.
Das Schweizerische Strafgesetzbuch regelt dies in Art. 19 Abs. 4 StGB.
Hat der Täter jedoch in dem Zeitpunkt, in dem er noch voll schuldfähig war, den Vorsatz hinsichtlich sowohl des Eintritts seiner Schuldunfähigkeit wie des deliktischen Erfolges gehabt, so steht ausser Zweifel, dass er wegen vorsätzlicher Begehung der Tat haftet. Ebenso klar ist, dass nur eine Fahrlässigkeitshaftung in Betracht kommt, wenn für ihn in diesem Zeitpunkt - mag er sich auch vorsätzlich betrinken - nur ein Fahrlässigkeitsdelikt vorhersehbar war.
Beispiel: Wenn ein Automobilist bedenkenlos Alkohol konsumiert, obwohl er weiss, dass er noch nach Hause fahren muss, kann deshalb das Fahren in angetrunkenen Zustand ein Vorsatzdelikt sein, die Herbeiführung eines alkoholbedingten Unfalls dagegen nur eine fahrlässige actio libera in causa, wenn man von der kaum denkbaren Möglichkeit der vorsätzlichen Inkaufnahme eines Unfalls absieht.
Bei der Fahrlässigen actio libera in causa ergeben sich folgende Konstellationen:
1. Der Täter berauscht sich vorsätzlich und erkennt fahrlässig nicht, dass er in diesem Zustand ein Delikt begehen könnte.
2. Der Täter berauscht sich fahrlässig und erkennt fahrlässig nicht, dass er in diesem Zustand ein Delikt begehen könnte.
3. Der Täter, der beabsichtigt ein Delikt zu begehen, berauscht sich fahrlässig.
Du siehst, die Thematik weist eine gewisse Komplexität auf. Wie B.Richterstatter aus medizinischer Sicht dargelegt hat, führen Substanzen einen Mensch in einen enthemmten Zustand. Das Bundesgericht vertritt übrigens der Auffassung, dass Menschen
grundsätzlich von bis zu zwei Promillen voll schuldfähig, zwischen zwei und drei Promille kommt eine Verminderung der Schuldfähigkeit in Betracht, ab drei Promille jedoch schuldunfähig sind
(BGE 122 IV 49 E 1b).
Meines Erachtens ist die Hürde immens, um von einem Freipass oder gar Beschönigung gewisser Taten zu sprechen.