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Schweizer sollten bestraft werden
NEUES LICHT AUF DIE VORKOMMNISSE IN ISTANBUL
JAN KEETMAN, Istanbul
Eine Kette von Indizien spricht dafür, dass die Eskalation beim Länderspiel Türkei-Schweiz in Istanbul weniger das Resultat einer allgemeinen Enttäuschung, sondern von langer Hand eingefädelt war.
Kaum war das Hinspiel in Bern vorbei, begannen der türkische Cheftrainer Fatih Terim, der Chef des türkischen Fussballverbandes, Levent Bicakci, und der für das Nationalteam zuständige Funktionär Davut Disli - unterstützt von einem Teil der Sportpresse -, eine Hetzkampagne. Davut Disli forderte im Fernsehen die «Bestrafung» der Schweiz für angebliche «Frechheiten» der Schweizer in Bern.
Mafia-Verbindungen. Die Sportzeitung «Fanatik» schrieb, das «Volk» bereite scharfe Reaktionen bei der Ankunft der Schweizer zum Rückspiel in Istanbul vor. Am Flughafen begannen die Pöbeleien schon beim Verlassen des Flugzeuges, was zeigt, dass Flughafenpersonal beteiligt war. Es kann kaum das «Volk» für die zweistündige Verzögerung der Passkontrolle verantwortlich gewesen sein. Im Stadion geschahen ebenfalls seltsame Dinge. So behauptet die Zeitung «Milliyet», 15000 Eintrittskarten seien kostenlos verteilt worden. An wen und zu welchem Zweck, ist unbekannt. Beobachtern fiel auf, dass auch der islamische Ruf «Allahuekber» «Gott ist grösser!» gebrüllt wurde, was beim türkischen Fussball ungewöhnlich ist.
In den für Zuschauer gesperrten Bereich wurden Leute zugelassen, die dort nichts zu suchen haben. Der hierfür verantwortliche Davut Disli erklärt, man habe Hilfe von den Fanclubs Besiktas Carsi, UltrAslan und Kill For You gebraucht. Zudem hielten sich dort zwei Personen auf, die Disli als «Freunde seit 20 bis 25 Jahren» bezeichnet - Ali Kiratli und Yasar Aydin. Beide werden beschuldigt, Schweizer Spieler angegriffen zu haben. In der türkischen Presse wird über ihre Mafia-Zugehörigkeit spekuliert.
Auch zwei Kameraleute und ein Reporter der privaten türkischen Nachrichtenagentur DHA wurden im Gang zu den Umkleidekabinen bedrängt. Der Kameramann Hakan Tarhan sagte später, drei oder vier Männer hätten ihn an die Wand gedrückt und am Hals gehalten. Man habe ihn, da er filmte, als Vaterlandsverräter beschimpft. Die Aufnahmen wurden kontrolliert. Er habe sich noch nie so gefürchtet wie in diesem Augenblick. Tarhan, der regelmässig an dieser Stelle filmt, ist sicher, dass diese Leute nicht zum Personal des Stadions gehörten.
Hatte die Mafia die Hände im Spiel?
DIE TÜRKISCHEN FUSSBALL-FUNKTIONÄRE KOMMEN IMMER MEHR UNTER DRUCK
Jan Keetmann, Istanbul
Hinter den Übergriffen nach dem Fussballspiel Türkei-Schweiz im Sükrü-Saraçoglu-Stadion in Istanbul stehen möglicherweise rechtsnationalistische Kreise.
Der Chef des türkischen Fussballverbandes, Levent Bicakci, hat für Dienstag zu einer Sondersitzung des Vorstandes eingeladen. Dort sollen die Ereignisse nach dem Spiel Türkei-Schweiz erörtert werden. Er dürfte auf der Sitzung einen schweren Stand und einiges zu erklären haben. Wie die Zeitung «Milliyet» berichtet, fordern die Präsidenten mehrerer Clubs den Rücktritt sowohl von Bicakci als auch des Nationaltrainers Fatih Terim; zudem soll der Spieler Alpay aus dem Nationalteam entfernt werden.
Nebst Trainer Fatih Terim und Verbandschef Levent Bicakci kommt zusehends auch der für die Nationalmannschaft zuständige Funktionär Davut Disli unter Druck. An der Sitzung müsste vor allem geklärt werden, warum Disli Leuten Zugang zum Kabinenbereich der Spieler verschaffte, die dort nichts zu tun hatten und die vermutlich an den Ausschreitungen beteiligt waren.
Dies gilt besonders für Ali Kiratli und für Yasar Aydin, denen Mafia-Verbindungen nachgesagt werden, sowie für weitere, bisher nicht näher bezeichnete Personen. Für Fatih Terim steht viel auf dem Spiel. Der bisher erfolgreiche Trainer hat das Ticket zur WM in Deutschland haarscharf verpasst. Seine ausfälligen Bemerkungen gegen die Schiedsrichter der beiden Matches, die Sticheleien gegen die Schweiz und der nun vom Zaun gebrochene Streit mit der Fifa lenken davon ab.
Regierung krebst zurück. Indessen erhalten die Vorfälle immer mehr eine politische Dimension. Zunächst deckte die türkische Regierung noch reflexartig die Empörung gegenüber der angeblich parteiischen Fifa. Der Staatsminister und Stellvertretende Ministerpräsident der Türkei, Mehmet Ali Sahin, kritisierte Fifa-Chef Sepp Blatter heftig, dieser habe wie ein Schweizer Spieler gesprochen. Doch mittlerweile wird gemunkelt, Levent Bicakci habe die Unterstützung der regierenden AKP verloren.
Hinter den Ereignissen stehen möglicherweise noch ganz andere Kräfte, Hinweise auf Verbindungen mit rechtsnationalistischen Kreisen mehren sich. Die zweistündige Verzögerung der Pass-Kontrolle, die Gelegenheit zu weiteren Pöbeleien gegen die Schweizer Mannschaft ermöglichte, kann schwerlich nur auf Initiative einzelner Beamter stattgefunden haben. Dies lenkt den Verdacht auf die mit der Partei der Nationalistischen Aktivisten verbundene Gewerkschaft der Flughafenarbeiter sowie Leuten mit Verbindungen zu den Sicherheitsapparaten. Nach einem Bericht der Zeitung «Sabah» (Der Morgen) ist Fatih Terim ein enger Freund des jetzigen Vorsitzenden der Partei des rechten Weges, Mehmet Agar. Der von Skandalen umwitterte, aber durch seine Immunität seit vielen Jahren geschützte Agar war einst der höchste türkische Polizist. Dann war er Innen- und Justizminister. Er stolperte, wenn auch nur halb, 1996 über den Susurluk-Skandal.
«Der tiefe Staat.» Dabei ging es um die Zusammenarbeit der Polizei mit rechtsradikalen Killern und um Mafia-Verbindungen. Der Skandal wurde nur teilweise aufgeklärt, hat der Türkei aber einen neuen politischen Begriff geschenkt: «der tiefe Staat». So werden selbsternannte Retter der Nation im Staatsapparat bezeichnet, die mit illegalen Methoden gegen die Öffnung des Landes kämpfen. Sie fürchten eine Demokratisierung und damit die Annäherung an Europa. Spannungen mit dem Ausland können ihrer Politik nur förderlich sein.