Teil 2
Bis zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels wurden im MEDAF seit 1899 60 Fälle von Haiangriffen auf Menschen oder Boote (einschliesslich Kanus) im Mittelmeer registriert. Die einzelnen Fälle können in die im Folgenden beschriebenen Unterkategorien unterteilt werden:
Unprovozierte Interaktionen mit Verletzungen von Schwimmern/Tauchern
Diese Kategorie liefert die wichtigsten Statistiken für den Vergleich der relativen Gefahr von Haiunfällen mit Schwimmern/Tauchern in den verschiedenen Regionen der Welt. Obwohl frühere Datenbanken, wie diejenige von Schultz & Malin von 1963, die tatsächliche Anzahl von verlässlich bestätigten Ereignissen aus der Mittelmeerregion stark unterschätzt hatten, ist die totale Anzahl, im Verhältnis zu den Millionen von Menschen, die seit 1899 jedes Jahr im Mittelmeer schwammen und tauchten, sehr niedrig. Der letzte Unfall mit Körperverletzung geschah am 3. September 1993 200 m vor Playa de les Arenes, einem Strand von Valencia (Katalonien) an der spanischen Costa Blanca. Das Opfer, der regelmässig an diesem Strand schwimmende Einwohner Jorge Hernandez, wurde an der Oberfläche von einem kleinen Hai ihm unbekannter Art angefallen. Später beschrieb er den Hai als «schlank», «schwarz» und etwa 2 m lang. Die Zehen am linken Fuss des Opfers wurden beim Unfall verletzt. Zur Erinnerung: Der letzte tödliche Unfall im Mittelmeerraum ist der viel zitierte Fall des italienischen Tauchers Luciano Costanzo im Februar 1989.
Nahaufnahme
Genaue Kenntniss des Verhaltens einer Haiart ermöglicht die Beobachtung aus nächster Nähe (Aufnahme mit 15mm Objektiv aus ca. 1 m Entfernung).
© Shark info
Während der letzten Jahrzehnte nahmen die Angriffe auf Surfer in wärmeren Gewässern weltweit zu und wurden meist dem Weissen Hai (Carachordon carcharias) zugeschrieben. Viele wissenschaftliche Kommentatoren begründen die Unfälle mit einer Verwechslung der Haie, die irrtümlicherweise Surfer auf ihren Brettern mit natürlicher Beute (Seehunde und Seelöwen) verwechseln sollen. Doch diese Theorie könnte, wenigstens aus globaler Sicht gesehen, sehr wohl auch nur eine sehr grobe Vereinfachung darstellen. Seehunde sind im Mittelmeer extrem selten. Es gibt keine Indizien dafür, dass die isolierten an einigen Stellen im Mittelmeer vorkommenden Mönchsrobben auch von Weissen Haien gejagt werden. Trotzdem zeigt ein erst kürzlicher Angriff auf einen Surfer im Mittelmeer, dass das Interesse der Weissen Haie an Surfbrettern und ähnlichen, an der Oberfläche treibenden Objekten, nicht auf Regionen beschränkt ist, wo Robben ihre hauptsächliche Beute sind. Am 6. Juni 1989, nachmittags um 3 Uhr 30, vor Marinella nahe Marina di Carrara (Toskana) im nordwestlichen Italien, wurde der lokale Surfer Ezio Bocedi von einem 3 m langen Hai - mit grösster Sicherheit ein Weisser Hai - schwer am rechten Oberschenkel verletzt. Bocedi lag auf dem Surfbrett und liess, um zu urinieren, den Unterkörper ins Wasser hängen. Ob das Urinieren den Hai anzog ist unklar. Bocedi selbst glaubt es nicht, weil er das Tier sich schon vorher nähern und ihn einige Sekunden lang umkreisen gesehen hatte. Damit deutete er an, dass die Neugierde des Hais durch visuelle Eindrücke bereits vor dem Urinieren geweckt worden war.
Luft/See-Katastrophen, wie Schiffsuntergänge oder Flugzeugabstürze, galten schon lange als Inbegriff der Haigefahr schlechthin, dies insbesondere im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs. 492 vor Christus beschrieb Herodot den ersten Fall eines Haiangriffs auf einen schiffbrüchigen Matrosen während der Zerstörung der persischen Flotte vor Athos, Griechenland. Wie auch immer, trotz intensiver Schiffs- und Flugaktivitäten im Mittelmeeraum während des Zweiten Weltkriegs, sind Haiangriffe überraschend selten geblieben. Im August 1943 war der US-Pilot Leutnant R. Kurtz gezwungen, seine Maschine etwa 65 km südlich von Neapel notzuwassern, als er sich nach einem Luftangriff auf Neapel auf dem Rückweg befand. Während er auf Rettung wartete wurde er mehrfach von verschiedenen Haien gebissen und erlitt Verletzungen an beiden Händen und Armen. Zweifellos blieben weitere ähnliche Fälle vor dem chaotischen Hintergrund des Krieges unerkannt.
Begegnungen von Haien mit Schwimmern und Tauchern ohne Verletzungen
Zur Zeit sind 6 in diese Kategorie gehörende Fälle registriert. Der jüngste fand am 15. Juni 1983 bei Riomaggiore (Italien) statt, wo der Gerätetaucher Roberto Piaviali von einem 3 m langen, aggressiven Weissen Hai in 5 m Tiefe belästigt wurde. Piaviali floh zum nahen Tauchboot, wo der Hai mit hölzernen Stöcken vertrieben wurde.
Diese Kategorie von Angriffen benötigt beim Entscheid, ob man sie auflisten soll oder nicht, besondere Umsicht. Bei allen Begegnungen zwischen Haien und Tauchern könnten dem Hai auch fälschlicherweise Aggression oder irgendeine Angriffsabsicht unterstellt werden. Um in diese Kategorie zu fallen, muss feststehen, dass der Kontakt mit dem Hai oder den Haien unmittelbar bevorstand und, wie in Piavalis Fall, nur durch kontrollierten Rückzug vermieden werden konnte. Das am besten beschriebene Beispiel in dieser Kategorie: Ein 4.2 m langer, weiblicher Weisser Hai biss mehrmals schwer auf den Taucher Goffredo Lombardo ein, als dieser im September 1956 etwa 6 km vor San Felice Circeo (Italien) am Grund tauchte. Er wurde gerettet, weil er dem Hai mit seiner Harpune in den Kopf schoss. Glücklicherweise blieb Lombardo, trotz einer Vielzahl von Biss-Schäden an seinen Flaschen und anderen Ausrüstungsteilen, völlig unverletzt. Ebenso bemerkenswert ist, dass Lombardo einen Tag später an dieselbe Stelle zurückkehrte, nach dem Hai angelte und denselben Weissen Hai, der ihn angegriffen hatte, auch tatsächlich erwischte. Wie von Giorgio Bini in einem ausführlichen Bericht (veröffentlicht 1960) beschrieben und fotografiert wurde, hatte der Hai noch immer die Wunde vom Harpunenpfeil am Kopf.
An selben Ort, bei San Felice Circeo, fand 1960 ein weiterer, sehr ähnlicher Angriff eines männlichen Weissen Hais auf zwei Taucher ohne Verletzung statt. Sie begegneten dem Tier, als es, begleitet von einem grösseren Weibchen, nahe dem Meeresgrund schwamm. Die sehr interessante Beobachtung lässt aggressives Verhalten im Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten in Erwägung ziehen. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass im September 1962, erneut am selben Ort, der speerfischende Gerätetaucher Maurizio Sarra weniger Glück hatte. Er verstarb auf dem Operationstisch als Folge seiner schweren Beinverletzungen, die ihm ein Weisser Hai beigebracht hatte. Sarra war mit 3 Freunden getaucht und wurde angegriffen, nachdem er eben einen harpunierten Barsch ins Boot gebracht hatte und wieder auf dem Weg zum Grund war.
Angriffe auf Boote, Kanus, usw.
An vielen Orten der Welt, wo Weisse Haie vorkommen, werden Boote von ihnen häufig «untersucht» und sogar angebissen. Dies ist im Mittelmeer nicht anders. Die Tendenz erwachsener Weisser Haie mit Fischerbooten, Vergnügungsbooten und kleineren Schiffen wie zum Beispiel Kanus aggressiv zu interagieren, wurde seit vielen Jahrzehnten beschrieben. 1881 erwähnte der respektierte Fischkundler Döderlein, dass lokale Fischer gewarnt wurden, nachdem ein Weisser Hai in der Strasse von Messina ein Boot angegriffen hatte. In der MEDSAF-Datenbank finden sich für den Zeitraum von 1908 - 1935 weitere frühe Berichte ähnlicher Begegnungen mit Weissen Haien vor Triest (Italien), vor der Halbinsel Istriens (Kroatien), im Bosporus (Türkei), vor Barcelona (Spanien) und in der Ionischen See vor Catania (Sizilien). In den 80er Jahren wurde eine kleine Anzahl von unprovozierten Angriffen auf kleine Boote bei der Insel Elba und vor der Po-Mündung in der Adria registriert. Das erste bekannte Ereignis im Mittelmeer mit einem Kanu - vergleichbar mit Angriffen auf Kajaks oder ähnliches in anderen Teilen der Welt - geschah am 30. Juli 1991 um 3 Uhr 30 nachmittags, nur 20 m vor dem bevölkerten Strand der Bucht von Tigullio bei Santa Margherita, Ligurien (Italien). Die einheimische Ivana Iacaccia befand sich mit einem 2 m langen, weissen Fiberglas-Kanu in 9 m tiefem Wasser gerade auf dem Rückweg ans Ufer, als sie von einem Weisser Hai von ca. 3.5 m Länge angegriffen wurde. Die Haiart konnte durch die Beschädigung am Kanurumpf und durch ein zufällig im Fiberglas stecken gebliebenes Zahnfragment eindeutig identifiziert werden. Geht man von der gegenwärtig enormen Zunahme der Popularität solcher Boote und ähnlich grosser Surfboards und Pedalos in den Ferienzentren des Mittelmeers aus, erstaunt es vielleicht, dass es seit 1991 zu keinem weiteren Zwischenfall gekommen ist (ein Angriff eines Weissen Hais auf einen Windsurfer mit Körperverletzung geschah im März 1986, allerdings knapp ausserhalb des Mittelmeers in Tarifa, Spanien, auf der atlantischen Seite Gibraltars). Die Statistiken belegen klar das extrem kleine Risiko eines Haiangriffs im Mittelmeer. Dies insbesondere im Vergleich zu anderen Regionen der Welt, wo sporadische Angriffe von Weissen Haien auf kleine Wasserfahrzeuge praktisch jedes Jahr vorkommen.
Provozierte Angriffe auf Menschen