13. Februar 2005, 08:53, NZZ Online
http://www.nzz.ch/2005/02/13/il/newzzE54XFBU7-12.html
«Wenn die Leute die Lektion lernen, sind sie nicht empört»
Israel Singer zur Kritik an der Schweiz
Angesichts des Bösen sei die Schweizer Neutralität im Zweiten Weltkrieg ein Verbrechen gewesen, hat Israel Singer, Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses, gesagt. Jetzt räumt er ein, dass die Schweiz womöglich keine andere Wahl gehabt habe. Doch er hält an der Kritik fest, dass die Lehren aus der Geschichte noch nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen seien.
Interview: Luzi Bernet
NZZ am Sonntag: In Ihren Äusserungen aus Anlass des Auschwitz-Gedenktages haben Sie gesagt, es sei ein Mythos, zu glauben, dass Deutschland allein für die Sünden des Holocaust verantwortlich sei. Wollen Sie die Rolle Deutschlands damit relativieren?
Israel Singer: Nein, bestimmt nicht. Sechs Millionen Juden wurden ermordet, es geschahen grauenvolle Dinge. Die Verantwortung für dieses grösste aller menschlichen Verbrechen trägt Deutschland, für immer. Das kann man nicht relativieren.
Was war dann Ihre Aussage?
Ich sagte, dass auch andere Länder Verantwortung zu tragen haben. Nehmen Sie England. England war zweifellos eines der tapfersten Länder im Kampf gegen die Nazis. Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass in England laut Umfragen 47 Prozent der Leute keine Ahnung von Auschwitz haben. Das ist doch einfach unglaublich! Die Briten haben eine Verpflichtung gegenüber ihrer eigenen Geschichte. Sie müssen wissen, was der Weltkrieg war und was der Holocaust. Nicht wegen der Juden, sondern wegen ihrer eigenen Geschichte. Dies aufzuzeigen, war eines der Ziele meiner Rede und des Artikels, den ich für die «Financial Times» geschrieben habe. Jedes Land hat seine eigene Verpflichtung. Die Deutschen wissen das. Deutschland hat vorzügliche Erziehungsprogramme in dieser Hinsicht.
Deutschland als Vorbild in dieser Frage? Ist das nicht paradox?
Ich sage nicht, dass Deutschland das Vorbild ist. Der Krieg geschah nicht irgendwo, sondern in Europa. Alle Länder waren - jedes auf seine Weise - vom Krieg betroffen. Vielleicht ist Dänemark ein Spezialfall. Es ist das einzige Land mit einer sauberen Geschichte. Das gilt möglicherweise auch für Bulgarien. Aber alle anderen tragen eine Verantwortung. Nehmen Sie die Niederlande, wo 92 Prozent der Juden verschleppt und getötet wurden. Die Niederländer sind nette Leute, aber diese Seite ihrer Geschichte gehört auch zu ihnen. Oder die Osteuropäer, wo die Leute durch 50 Jahre Kommunismus nicht die Chance einer richtigen Erziehung hatten. In Osteuropa gab es spezielle Verdrängungsmechanismen: Man trichterte den Leuten ein, dass sie nichts mit dem Holocaust zu tun gehabt hätten. Was einfach nicht stimmt. Man könnte andere Länder nennen, Norwegen, Ungarn, die Ukraine, Litauen. Jedes Land muss die Wahrheit über sich selber sagen, auch in den Schulen. Das Gute wie das Schlechte.
Gibt es Länder, die das wirklich tun?
In Frankreich vollzog Präsident Chirac 1995 einen historischen Wandel, als er öffentlich und mit präsidialer Autorität sagte, dass Frankreich im Krieg nicht nur das Frankreich de Gaulles war, sondern auch das Frankreich Pétains und der Kollaboration. Dieses Bekenntnis hat jeder Franzose vor Auge, wenn er über diese Zeit spricht. Auf solche Dinge achten wir, auf Lernprogramme, auf öffentliche Statements der Politiker, auf Aussagen der Kirchenführer.
In der Schweiz hat sich der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger 1995 für die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg entschuldigt
Ja, ich weiss. Die Frage ist nur, ob das jedes Kind weiss und zur Kenntnis genommen hat. Nehmen wir den Bankenvergleich. Wird dereinst in den Schulen gesagt, die Banken seien unter Druck gesetzt worden und hätten deshalb bezahlt, oder wird man sagen, die Banken hätten gezahlt, weil sie sich im und nach dem Krieg nicht richtig verhalten haben? Die Art und Weise, wie etwas vermittelt wird, spielt eine wichtige Rolle.
Warum haben Sie in Ihrer Rede die Schweiz besonders hervorgehoben?
Die Schweiz war neutral. Sie beteiligte sich nicht am Krieg wie die anderen Länder in Europa. Sie ist nicht gleichzusetzen mit den Tätern oder den Kollaborateuren. Aber auch die Schweiz hat eine Verantwortung. Sie war mittendrin, zwar geschützt von den Alpen, doch in konstanter Angst vor einem Überfall. Ich weiss das. Meine Frau ist Schweizerin. Aber die Schweiz sollte sich nicht auf ein einseitiges Selbstbild stützen. Es ist nicht so, dass alle Schweizer tapfer und mit einer Waffe in der Hand an der Grenze standen und aufpassten, dass die Nazis nicht hereinkommen konnten.
Ich bitte Sie: Spätestens Bergier hat dieses Bild korrigiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten hat die Schweiz ihre Vergangenheit aufgearbeitet.
Das ist es ja. Im Bergier-Bericht steht alles drin. Ich zitiere nur das, was die Bergier-Kommission herausgefunden hat. Vielleicht war es etwas provozierend, was ich gesagt und geschrieben habe, aber es war mindestens gut abgestützt. Die Schweizer Flüchtlingspolitik half beim scheusslichsten Nazi-Verbrechen mit, beim Holocaust. Der J-Stempel in den Pässen der Juden, das Abweisen von Flüchtlingen an der Grenze - das gehört alles dazu. Mag sein, dass die Schweiz mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als andere Länder. Und sie hat sich bestimmt auch nicht so verhalten wie Frankreich, die Niederlande, Ungarn, Kroatien oder die Slowakei. Es gab viele, viele mutige Personen in der Schweiz, Juden wie Nicht- Juden. Aber warum ist einer davon, Carl Lutz, nicht einer der grossen Helden in der Schweiz? Lutz war einer der Helden des Zweiten Weltkriegs, vielleicht so gross wie Wallenberg. In Schweden kennt jedes Kind Wallenberg. Das ist es, was ich zu sagen versuche: Die Schweizer sollten ihre wahren Helden kennen. Solche wie Lutz, die jüdische Leben retteten. Aber auch die negativen wie Heinrich Rothmund, der den Ausdruck «Das Boot ist voll» prägte.
In Ihrer Rede sprachen Sie aber nicht von der Flüchtlingspolitik, sondern von der Neutralität der Schweiz.
Ich wiederhole mich: Jedes Land hat seine Verantwortung zu tragen. Die Opfer, die Täter, die Kollaborateure, die Neutral[/I]en. Jeder hat seine spezielle Geschichte, die er seinen Menschen erzählen muss. Wenn Sie an die Philosophie der Neutralität glauben, wie die Schweizer es tun, dann haben Sie eine Verpflichtung, zu sagen, was gut daran war und was schlecht. Auch Amerika war übrigens neutral bis 1941. Meine Familie wurde ausgelöscht, bevor Amerika in den Krieg zog. Wir kritisieren das Verhalten der Amerikaner auch. Die Neutralität der USA bis 1941 gab den Russen und den Deutschen die Gelegenheit, den Molotow-Ribbentrop-Pakt zu schliessen.
Die Bergier-Kommission hat festgehalten, dass die Neutralität die einzige Möglichkeit für die Schweiz war, unversehrt zu bleiben.
Das mag richtig sein. Es gibt viele Möglichkeiten, die Frage der Neutralität zu beurteilen. Bergier hat in seinem Bericht auch die schlechten Seiten gezeigt. Alle diese Dinge müssen in die Schulen, in die Kirchen, in die Zeitungen durchsickern. So dass man in der Schweiz keine Phantasien mehr über die eigene Rolle pflegt. Wir heute sind nicht verantwortlich für den Holocaust, aber wir sind verantwortlich für unser Verhalten und dafür, dass wir aus der Vergangenheit lernen.
Hätte sich die Schweiz auf die Seite der Alliierten stellen müssen?
Das sage ich nicht. Die Schweiz hatte damals und hat heute ihre eigenen Entscheide zu treffen. Die Art und Weise, wie Ihre Aussenministerin die Neutralität heute interpretiert, finde ich übrigens bemerkenswert, gerade mit Blick auf den Nahostkonflikt.
Sie sagen, alle müssten ihre Lehren aus der Geschichte ziehen. Warum aber haben Sie ganz speziell die Schweiz hervorgehoben?
Ich habe nicht alle Staaten nennen können. Das perfekte Beispiel eines neutralen Landes ist nun einmal die Schweiz. Und ich wiederholte nur, was andere auch schon gesagt haben: dass die neutrale Haltung angesichts des Bösen ein Verbrechen war. Die Schweizer sahen sie als einzige Option. Ich verstehe das. Aber sie sollten es in ihrer eigenen Art unterrichten und weitergeben. Warum und was haben wir getan? Mit welchen Folgen?
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