weltwoche hat geschrieben:http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=12280&CategoryID=66
Gesundheit!
Von Mathias Plüss
Vorsorge ist gut, solange sie nicht manisch betrieben wird. Sicherheitsfanatiker und Hamsterkäufer von Tamiflu handeln kontraproduktiv.
«Jetzt, da ich dieses schreibe», notiert Georg Christoph Lichtenberg im August 1794, «zeigen sich bei uns Spuren der Ruhr.» Innert weniger Tage seien in Göttingen sechs Menschen gestorben, trotzdem sei alles «sehr ruhig», wundert sich Lichtenberg] Ist das nicht sonderbar? Wie würden sich wohl die Menschen in diesen Tagen verhalten, wenn die Ruhr [ihr] Schlachtopfer jedesmal mit einem Donnerschlag befiele, der die Häuser beben machte?»
Offenbar ist der paradoxe Umgang mit Gefahren etwas zutiefst Menschliches. Wir fürchten uns vor dem Unbekannten, das unsere Fantasie in den schwärzesten Farben malt, und nicht vor dem, was uns hier und jetzt konkret bedroht. Oder kennen Sie jemanden, der Angst hat vor einer gewöhnlichen Grippe? Drei bis fünf Millionen Fälle von schwerer Grippe gibt es jedes Jahr, schätzt die WHO u2013 gegen 500000 Menschen sterben daran, viele davon in Industrieländern. Dabei könnte man sich problemlos impfen lassen. Zur Erinnerung: Die Vogelgrippe hat bisher gerade mal sechzig Todesfälle verursacht. Aber jeder einzelne war begleitet von einem medialen Donnerschlag, der die Herzen beben machte.
Wir wollen die Gefahren der Vogelgrippe nicht kleinreden. Zweifellos wird es wieder eine Pandemie geben, und die Wahrscheinlichkeit dafür hat in den vergangenen Monaten eindeutig zugenommen. Noch aber handelt es sich um eine Tierkrankheit. Es ist völlig offen, ob und wann das Virus lernt, von Mensch zu Mensch zu springen, und es ist auch möglich, dass es dann längst nicht mehr so ansteckend und tödlich sein wird wie jetzt bei den Vögeln. Bei der letzten Pandemie 1968 starben etwa eine Million Menschen. Das ist viel, aber auch nicht so wahnsinnig viel, verglichen mit der knappen halben Million Grippe-Opfern in normalen Jahren.
Irrational, teuer und gefährlich
Zwar gleicht die heutige Situation rein biologisch jener von 1918, als mehr als fünfzig Millionen Menschen durch die Spanische Grippe umkamen. Doch die sozialen Umstände sind völlig anders. Damals war der Wissensstand niedrig, Massnahmen wurden zu langsam ergriffen, es gab keine antiviralen Medikamente. Die Leute waren geschwächt von Hunger und Krieg; Versorgung und Hygiene waren vielerorts schlecht. Es spricht alles dafür, dass sich heute, sollte es wirklich zu einer Pandemie kommen, die Zahl der Toten in einem Land wie der Schweiz mit wachen Behörden und grossen Medikamentenvorräten in Grenzen halten wird.
Trotz dieser Argumente grassiert in der Bevölkerung das Vorsorgevirus u2013 unter dem zweifelhaften Motto «sicher ist sicher». Dieses Sicherheitsdenken ist nicht nur irrational und teuer: Es ist oft genug auch kontraproduktiv. Wer kein Poulet mehr isst (obwohl es weltweit kein einziges Beispiel gibt von Vogelgrippe-Ansteckung durch Fleischverzehr), der schadet wenigstens «nur» den Fleischproduzenten. Wer jedoch seinen privaten Tamiflu-Vorrat anlegt, der hortet ein knappes Gut, das anderswo dringend gebraucht würde. Darum nimmt die Vogelgrippegefahr durch das Tamiflu-Hamstern insgesamt wohl eher zu und nicht ab.
Die fatale Wirkung der Vorsorge-Manie ist aus zahlreichen Beispielen bekannt. Die Angst vor Benzinknappheit etwa hat 1979 in Kalifornien dazu geführt, dass die Automobilisten die Tankstellen stürmten und das Benzin tatsächlich knapp wurde. Übertriebene Hygiene ist verantwortlich für die rasante Zunahme von Allergien. Das DDT-Verbot hatte zur Folge, dass heute jährlich wieder ein bis zwei Millionen Menschen an Malaria sterben, nachdem die Krankheit einst dank DDT fast ausgerottet war. Und selbst die Nützlichkeit der Brustkrebs-Vorsorge wird von vielen Fachleuten bestritten: Die Zahl der dadurch verhinderten Todesfälle ist so gering, dass sie die Nebenwirkungen des Verfahrens womöglich nicht aufwiegt. So wird bei einem regelmässigen Screening über zehn Jahre im Schnitt jede zweite Frau einmal mit einer falschen positiven Diagnose konfrontiert, was jedesmal mit heiklen Eingriffen und Todesängsten verbunden ist.
Solche Ängste gehen in die Rechnungen der Sicherheitsfanatiker nicht ein, denn messen lassen sie sich nicht. Immerhin weiss man aus Versuchen mit Wanderratten, dass übertriebene Ängstlichkeit und Stresshormone die Lebenserwartung um mehr als zehn Prozent senken. «Übervorsicht schadet Ihrer Gesundheit», warnt daher der deutsche Autor Stefan Klein. Überdies ist die Dauervorsicht mit einem gehörigen Verlust an Lebensqualität verbunden. Er sei in einen tausend Meter tiefen Bergwerkstollen gezogen, sagte Karl Valentin einmal in einem Bühnenstück. Das sei zwar unheimlich, dafür aber «sicher vor Meteorsteinen». Auf den Einwand, dass «Meteorsteine doch ganz selten seien», erwiderte er: «Schon, aber bei mir geht die Sicherheit über die Seltenheit.»