Danke für deine ausführliche Antwort.
footbâle hat geschrieben:Ich weiss auch wovon die Rede ist, da ich zusammen mit vielen anderen als Tschinggenkind (Mutter aus Kampanien) den Charme der Ära Schwarzenbach erleben durfte. Den Kontext liefert diese Seite.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft- ... r-verboten
Die Verlierer der Abstimmung 1970 wurden nach der Niederlage noch fanatischer und militanter. Mein älterer Bruder und ich haben auf dem Schulhof auch ab und zu gepflegt eins auf die Fresse gekriegt, weil wir zusammen italienisch gesprochen haben. Die erste Reaktion war Trotz und Provokation, dadurch noch mehr Ärger. Später dann lernte man, zu akzeptieren, dass man anders war, dann sich zu arrangieren, und dann sich zu integrieren. Viele der bleichgesichtigen Jungs, die mich früher wegen der Herkunft meiner Mutter verdroschen haben, dürften mir heute nicht mal mehr die Schuhe putzen. Die habe ich weit hinter mir gelassen. Über diese Zeit könnte ich seitenweise schreiben. Geschenkt. Nur soviel: Ich weiss, wie sich das anfühlt. Und gerade als Kind versteht man das eher schlecht. Aber man muss lernen, dort zu überleben, wo man sich gerade aufhält - indem man Abgrenzung durch Anpassung überwindet.
Da hast du eine schlimme Phase der Italiener-Diskriminierung erlebt, das war bestimmt hart. Aber du hast auch einen Wandel erlebt. Vor allem hast du auch die Möglichkeit des persönlichen Aufstieges erlebt. Bestimmt wurden dir auch ständig Steine in den Weg gelegt, aber irgendwie war es schlussendlich möglich. Wie wäre es aber, wenn jetzt der beobachtete Wandel nur in den Gesetzen stattgefunden hätte? Also den Italiener Zutritt gewährt werden muss und die rechtliche Diskriminierung verboten wäre, aber die strukturelle weiterhin bestand hielte? Wie würdest du denken, wenn man sich hier Italienischstämmigen gegenüber noch immer gleich verhielte, wie dir damals? Wäre das nicht frustrierend? Und wenn du hörst, dass dies schon seit x Generationen so anhalten würde?
Ja. Man muss sich auch anpassen können. Da stimme ich dir zu. Aber in den USA existiert eine Art Klassengrenze, die man nicht so einfach überwinden kann, wie beispielsweise hier, wo schon alleine das Schulsystem für Anpassungsmöglichkeiten sorgt.
footbâle hat geschrieben:Gerechtigkeit gibts im Himmel. Auf der Erde gibt es Rechte und Gesetze, sofern man das Privileg hat, in einem Rechtsstaat zu leben. In den USA haben es viele Schwarze auf legalem Weg mit Fleiss, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit zu Sicherheit, Wohlstand und Einfluss gebracht. Chancengleichheit jedoch ist eine Utopie. Und die Grenze verläuft nicht entlang der Hautfarben, sondern entlang der ökonomischen Voraussetzungen. "White trash" irgendwo in einer Industriewüste in Detroit hat auch schlechtere Chancen als die Kinder eines afroamerikanischen Zahnarztes in San Diego. Im übrigen gibts in vielen US Unternehmen "Diversity Policies", die schon beinahe absurd sind.
Wer das Paradies im Jenseits wähnt, rechtfertigt sich bereits, das Diesseits als Hölle belassen zu dürfen. Ich würde das jetzt nicht unbedingt auf dich zuschreiben, aber auf deinen ersten Satz dieses Abschnitts. Ich habe bewusst nach der Wahrscheinlichkeit gefragt, weil es im Einzelfall selbstverständlich möglich ist, diese Grenze zu überwinden.
Natürlich gibt es bei dieser Klassengrenze auch White-Trash im unteren Teil, die niemals die Chance haben, nach oben zu gelangen. Die richten ihre Wut dann gegen das Establishment und wählen Trump. Aber weil die Schwarzen sehen, dass sie mit signifikanter Mehrheit seit Generationen unter dieser Grenze liegen und nur den Sprung schaffen, nehmen sie das exakt gleiche Problem auch als rassistisches Problem wahr, nur wählen die halt nicht Trump und wettern gegen das Establishment, sondern gegen Rassisten. Und weil die unter dieser Grenze viel eher in der Kriminalität landen, ist die Chance, dass ein junger Schwarzer eben auch ein krimineller ist höher, als bei einem jungen Weissen. Der Weisse muss differenzierter betrachtet werden, White-Trash oder aus der bröckelnden Mittelschicht oder gar Oberschicht? Beim Schwarzen braucht es diesen Blick nicht, weil die weniger Mittel- oder Oberschicht-Schwarzen gar nicht in dieser Gegend wohnen. Da braucht man als Polizist nicht unbedingt von einer rassistischen Ideologie geprägt zu sein, die erlebte Statistik des Alltags kann schleichend zu so einem Vorurteil und in dessen Folge auch diskriminierendem Verhalten führen.
Von «Diversity Policies» und Quoten in Privatunternehmen halte ich übrigens wenig, wer sich sowas auferlegt, gesteht sich bereits ein, anders nicht vorurteilsfrei entscheiden zu können. Als internen Richtwert können sie diese sehr gerne anstreben und zur Selbstkontrolle verwenden. Dazu muss man sich die HR aber auch mal zur Brust nehmen, sollte sie weiterhin von vorurteilsbelastet einstellen. Eine ernsthafte funktionierende Policy kann kaum anders, als absurd formuliert werden, denn eigentlich sind sie meist nur Botschaften nach aussen, aber müssen genügend Freiheiten gewähren, um als Unternehmen wirtschaftlich zu bleiben.
footbâle hat geschrieben:Bezüglich der Schweiz - wir haben Art. 261bis im Strafgesetzbuch. Rassismus geht hier nicht. Für 'regelmässige Benachteiligungen', wie du sie nennst, habe ich keine Evidenz. Und wenn es sie gibt, dann würde ich das auf Augenhöhe sehen mit der Benachteiligung von Frauen, Migranten, älteren Arbeitnehmern, Behinderten etc. Ich billige keine dieser Benachteiligungen, aber die perfekte Welt gibt es nicht, und es wird sie nie geben. Was ich für ganz übel halte, ist die Tendenz, dass auch völlig korrekte Vorgänge suspekt werden, weil jemand betroffen ist, der potentiell benachteiligt werden könnte. Beispiel: Der Mann kriegt den Job statt die Frau, weil er geeigneter ist. Das riecht dann gleich nach einem Gender Thema. Oder: Ich habe vor einem halben Jahr mal in Genf erlebt, dass im vollen Tram eine alte, stark gehbehinderte Frau den erstbesten bat, ihr den Platz zu überlassen. Der war zufällig Afrikaner, vermutlich Ivorer, und sagte sowas wie "ok, je sais pourquoi c'est moi qui est demandé à se lever.." Es ist dann sofort jemand anderes aufgestanden. Aber wenn solche Leute einfach immer und überall einen Bezug zu ihrer Herkunft und Hautfarbe herstellen, dann nerven sie.
Genau. Die Demonstrationen in der Schweiz richten sich auch kaum gegen die gemäss Strafgesetzbuch ausgedrückten Rassismus. Der ist hierzulande gefühlt, kein grosses Problem. Es sind eher die kleinen Formen von Ausgrenzung und Benachteiligung. Die, wie du sagst, auch Frauen, Migranten, Ältere, Behinderte und was-weiss-ich treffen. Rechtlich sind wir sehr fortschrittlich, aber ein Gesetz löst nicht das Problem in den Köpfen. Darum würde ich ja die vorurteilsbasierende Diskriminierung angehen. Denn daran leiden die Betroffenen vermutlich mehr, als an der Namensgebung eines Süssgebäcks.
Der tribale Abgrenzungsmechanismus, wir-vs-andere funktionierte wunderbar, als Verdrängungskampf, solange noch Platz zum weiterziehen, andere Ressourcen zu jagen und ernten existierten. Jetzt, da aller Boden und die meisten Ressourcen schon in Besitz sind, es kaum Möglichkeiten gibt, weiterzuziehen, wird die Sache halt ein wenig brenzliger. Der Druck nimmt zu, weil er nicht entweichen kann und gelegentlich entlädt sich dieser in einem kleinen Knall. Jetzt kann man die Zeichen so deuten und versuchen, etwas zu unternehmen, dass dieser Druck abnimmt oder man kann sie ignorieren und den Deckel à la Dampfkochtopf fixieren. Aber mich würde es nicht wundern, wenn es in den USA bald zu einem gewaltigen Knall kommen wird.
footbâle hat geschrieben:Abschliessend: Was Cops wie dieser Chauvin abziehen ist unter aller Kanone. Wäre es auch mit einem weissen Opfer. Aber es sind krasse Einzelfälle, denn es gibt gegen eine Million Verhaftungen in den USA - pro Monat. Aus dem Fehlverhalten von Einzelnen abzuleiten, dass die ganze US Gesellschaft Rassismus-verseucht ist, und deswegen Häuser abzufackeln und ganze Strassenzüge zu plündern, ist aber Unsinn und durch nichts zu entschuldigen. Das hilft keinem, weder direkt noch indirekt, weder kurz- noch langfristig.
Klar. Über die Gewalt von Polizisten oder von Demonstranten brauchen wir nicht zu diskutieren. Ich sage nur, dass beides Ausdruck eines vorherrschenden Problems ist. Das Problem sind die Vorurteile, resp. der Kampf/Streit/Wettbewerb um Wohlfahrt. Wer nicht deinem Stamm angehört, den brauchst du nicht teilhaben zu lassen. Würde Wohlfahrt zugänglicher sein, würden Unterschiede und Vorurteile zwar weiterbestehen, aber die Last wäre weniger bedrohlich und erdrückend. Und man könnte lernen, zuerst nebeneinander und später miteinander zu leben. Wie mit den Italienern.
Und verstehe das bitte nicht als kommunistische Gleichstellung. Ich sehe es eher wie Piketty. Unterschiede sind gut und nützlich, sind ein guter Antrieb. Aber der Wettbewerb darf nicht soweit gehen, dass es den Untersten ernsthaft an die Substanz geht, während die Obersten einen Reichtum generieren, der jenseits jeglicher Vorstellung ist. Wieviele Könige hatten Reichtümer, wie beispielsweise ein Jeff Bezos? Sie
herrschten zwar über gigantische Ländereien, aber sie
besassen sie nicht. Was heute an Vermögen durch Schulden generiert und der Mehrheit immer unzugänglicher wird, erzeugt diesen Druck, der von Andersartigkeit zu Vorurteilen zu Diskriminierung und Ausgrenzung zu Rassismus / Sexismus / Antisemitismus / und x-beliebieg anderen Grabenkämpfen führt. Denn wenn ein Gut nicht mehr für alle auszureichen scheint, muss man die Grenze derer, die man zu den Seinen zählt, enger definieren. Man kann dann nicht mehr gönnen.
Sorry, falls ich ein wenig abgeschweift bin. Da spricht auch ein wenig Alkohol aus mir.
