blauetomate hat geschrieben:Anfang März hiess es, Mitte März überrollt uns eine Corona-Welle. 90'000 Tote in der Schweiz.
Mitte März hiess es, Ende März überrollt uns die Welle definitiv. 50'000 Tote.
Ende März leider immer noch keine Welle - Ende April kommt sie dann bestimmt.
Mitte April ein Artikel in einer Zeitung von einer Statistikerin: Ende April kommt der Höhepunkt der Belegung in den Intensivstationen. Das zu einem Zeitpunkt, als die Belegung bereits deutlich am sinken war. Ende April waren die Intensivstationen dann dummerweise fast leer.
Anfang Mai bei der Ankündigung erster Lockerungen: Hilfe, ihr treibt uns alle in die zweite Welle und den Tod, alles viel zu früh.
Mitte Mai bei der Ankündigung nächster Lockerungen: Hilfe, ihr treibt uns alle in die zweite Welle und in den Tod, alles viel zu früh.
Mitte Mai: Steinen - später Fussballspiele in Lausanne - dann überflutete Wanderziele: Hilfe, diese verantwortungslosen Massenmörder treiben uns alle in den Tod.
Und was passier? sie schreien und schreien Zeter und Mordio und die Ansteckungszahlen sinken und sinken und die laut schreienden Jammerlappen und Hysteriker wollen das einfach nicht sehen/wahrhaben und schreien einfach weiter Zeter und Mordio und natürlich, es ist unbestritten: wir werden demnächst alle aussterben wegen diesem verantwortungslosen Gesindel von Bundesrat und heute pensioniertem BAG-Chef.
Und wenn jetzt ein Neunmalkluger kommt und sagt, das sei alles nur wegen den Massnahmen: Ja klar - die Statistiken zeigen seit Ende März deutlich, dass Abstand, Hygienemassnahmen und Verbot der Grossveranstaltungen die entscheidenden Faktoren waren. Der ganze Rest Peanuts, vernachlässigbar, sorgte für mehr Kollateralschaden als zusätzlichen Nutzen. Und ganz komisch: die Zahlen sinken sogar ohne Maskenpflicht. Wie bloss ist denn das möglich? Das kann (darf) ja gar nicht sein (OeV Basel und Zürich: maximal 5% Maskenträger, seit 3 Wochen). Täglich trotzdem nur 10-20 Neuinfizierte. Da ist die Chance ungleich grösser, dass ich im OeV oder im Restaurant einem Trickdieb oder gar Schläger unglücklich über den Weg laufe und bestohlen / zusammengeschlagen werde, als dass ich infiziert werde.
Nicht jeder, der die Massnahmen für angebracht hielt ist ein Paniktreiber oder von Panik Getriebener.
Waren diese hohen Todeszahlen wirklich als eintreffende Vorhersage publiziert worden? Sogar als modellierte Prognose, basierend auf der Annahme, dass sich die Bevölkerung überhaupt nicht anders verhalten würde, klingen sie sehr hoch angesetzt. Waren das wirkliche die Annahmen des breiten Konsens verschiedener Studien und Hochrechnungen, auf deren Grundlage dann Entscheide gefällt wurden? Waren das dramatisierende Zahlen der Presse? Oder waren das nur die allerschlimmsten Hochrechnungen eines einzelnen, welche dann von den verängstigten Personen ins Feld und somit x-fach erwähnt wurden?
In der Annahme der Peak Belegung von Spitalbetten wurde sicher tendenziell zu vorsichtig kalkuliert. Es gibt so viele Faktoren, welche in diese Modellrechnungen einfliessen. Wenn jeder einzelner davon eher zu vorsichtig angenommen wurde, liegt das Ergebnis am Ende weiter daneben. Erschwerend kommt hinzu, dass viele dieser Faktoren vom Verhalten der Menschen beeinflusst werden. Das richtig vorherzusehen ist praktisch unmöglich. Erst recht für ein Ereignis ohne Erfahrungswert. An diesem Problem leiden aber sämtliche Prognosen, auch Wirtschaftsprognosen oder prognostizierter Kollateralschaden.
Ich kann dein Unverständnis für die Panik absolut nachvollziehen, denn auch ich halte sie für übertrieben und unangebracht. Da wird von einzelnen Personen oder Medien oft überreagiert und ihre Aussagen erregen mehr Aufmerksamkeit. Weil aber nur noch grössere Zahlen für mehr Aufmerksamkeit sorgen schaukelt sich das Ganze ungesund hoch, statt bei der unspektakulären aber wahrscheinlicheren Annahmen zu bleiben. Ich glaube aber dass es genau so wenig zielführend wäre, die Sache zu Verharmlosen oder ins Lächerliche zu ziehen, um sie zu relativieren. Ich hoffe, dass du nicht jeden, der sagt, dass sich das Infektionsgeschehen ohne Massnahmen anders entwickelt hätte, mit den Panikmachern gleichsetzt.
Über die Verhältnismässigkeit der Massnahmen lässt sich sehr wohl diskutieren. Aber auch hier wird es schwierig, belegbare Fakten heranzuziehen. Berset hat es mal sehr schön auf den Punkt gebracht, als man zu Beginn von einigen Seiten noch strengeren Massnahmen forderte: «Es sind nicht die verordneten Massnahmen, welche die Verbreitung eindämmen, sondern wie wir uns verhalten» (sinngemäss, weiss die exakte Wortwahl nicht mehr). Der Bundesrat wollte von Anfang an auf die Eigenverantwortung setzen. Dies bedingt aber, dass die Bevölkerung diese auch wahrnimmt und umsetzt. Während sich Teile der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Institutionen sehr adäquat und vorbildlich verhielten, gab es auch Teile, die anfänglich Mühe damit hatten, sich an die neue Situation anzupassen, weil ihnen das Verständnis fehlte. Die Massnahmen waren vielleicht in ihrem gesamten Ausmass zu vorsichtig verordnet, weil man vielleicht ihren Effekt unterschätze. Aber vielleicht war auch genau dieses Ausmass nötig, damit die Mehrheit die Lage erst erkennen konnte?
Die aktuellen Lockerungen werden die zweite Welle genauso wenig heraufbeschwören, wie die erste durch die Massnahmen abgeflacht werden konnte. Es ist unser kollektives Verhalten, welches die Verbreitung positiv oder negativ beeinflussen kann. Also nicht,
ob wir raus gehen und
ob ein Betrieb geöffnet hat, sondern
wie wir raus gehen und
wie ein Betrieb geöffnet hat. Ich finde die Lockerungen gut, weil sie die Möglichkeit eröffnen, die gelernten Erfahrungen in praktische Konzepten während einer Zeit niedrigen Infektionsgeschehens zu erproben. Je besser man sich jetzt auf eine Situation mit hohem Infektionsgeschehen einstellen kann, desto milder werden die Auflagen bei einer folgenden Welle ausfallen können. Wer dies aber als lächerliche
Trockenübung abtut und sich nicht auf so eine Situation einstellen will, weil ja gar kein
Wasser da ist, darf sich dann aber nicht wundern, wenn bei einem Wiederanstieg des Infektionsgeschehens, auch wieder härtere Auflagen folgen.
Bei den von dir genannten Beispielen Steinen, Fussballspiel oder Wanderziel ist natürlich sehr schwer von aussen abschätzen zu können, ob diese Leute verstanden haben, um was es geht. Verhalten sie sich nun nur so, weil das Infektionsgeschehen niedrig ist und dieses daher kaum negativ beeinflussen oder würden sie sich gleich verhalten, wenn es wieder ansteigt und dadurch entweder weniger strenge Massnahmen verhindern oder das Infektionsgeschehen sogar vorantreiben? Je nach Annahme fallen halt die Reaktionen unterschiedlich aus.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Infektionsgeschehen wieder zunehmen wird. Es liegt einfach in der Natur der Sache. Der Begriff «Welle» mag vielleicht mehr Angst schüren, als angebracht wäre. Ich gehe eher davon aus, dass die bisher und künftig gewonnenen Erkenntnisse über den Virus und seine Verbreitung, aber auch der gelernte Umgang mit dieser Situation, eine viel verhältnismässigere Reaktion mit ähnlichem oder gar besseren Effekt erlauben wird. Daher sehe ich auch darin keinen Anlass zu Panik. Wir haben uns eine sehr gute Ausgangslage geschaffen.