FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) -- 27.06.2005
Der Ball ist wund
Was ist eigentlich Fußballkultur? Ist es das, was Brasilien mit dem dritten Tor gegen Deutschland im Halbfinale des Confederations Cup vorgeführt hat: ein blitzschneller Angriff mit herrlichem Abschluß durch Adriano, der denn auch prompt mit Unterstützung der amerikanischen Biermarke Anheuser Busch zum "wertvollsten Spieler der Begegnung" gewählt wurde? Oder ist Fußballkultur das, was im Umfeld eines Fußballspiels hervorgebracht wird? Etwa die Unmutsäußerungen deutscher Fans gegen Anheuser Busch als Hauptsponsor des Confederations Cup, weil ihnen im allgemeinen das ganze Sponsorenwesen im Fußball nicht paßt und sie im besonderen in den Stadien auf ihre gewohnten deutschen Biersorten verzichten müssen?
Um solche Fragen zu klären, hat man im vergangenen Jahr in Nürnberg die Deutsche Akademie für Fußballkultur gegründet. Dazu haben sich die Stadt, das ortsansässige Fachmagazin "Kicker" und die einheimische Noris-Bank zusammengetan. Thema war diesmal an zwei Tagen die "Spielkultur", doch dabei ging es weniger um ästhetisch-strategische Analysen hoher Fußballkunst, sondern vor allem um die Frage, wem der Fußball gehört und was sich im Stadion ziemt.
Für die Zuschauer sind beide Antworten klar: Ihnen als Fans gehört er, und erlaubt ist, was gefällt. Doch für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr fürchten sie Enteignung und Bevormundung. Denn in den Stadien genießt dann die Fifa Hausrecht, und beim Confederations Cup konnte man einen Vorgeschmack darauf bekommen, was das bedeutet. Es heißt unter anderem, daß der Schiedsrichter keine eigene Münze mehr zur Seitenwahl mitbringen muß, weil diese Aufgabe an einen der Sponsoren abgetreten worden ist, der für jedes Spiel ein Kind zum offiziellen Münzträger bestimmt. Man kann die kleinen Knirpse nicht ohne Rührung betrachten, doch die Fans empfinden noch das letzte bißchen Tradition ihres Spiels als verraten und vor allem verkauft.
Nur wer mitsingen kann, darf mitreden
Wer allerdings sind "die Fans"? Dazu gaben die in Nürnberg versammelten Experten keine rechte Auskunft. Klar war nur, daß es nicht mehr ausschließlich diejenigen sind, die sich selbst als "Ultras" bezeichnen. Mittlerweile ist der Stadionbesuch ein Familienereignis, und ein Drittel der Zuschauer sind Frauen. Die Entproletarisierung bringe den Fußball nur wieder seinem Herkunftsmilieu näher, dem Bildungsbürgertum, das diese Sportart im frühen zwanzigsten Jahrhundert populär gemacht habe, meinte Kurt Wachter, österreichischer Antirassismus-Aktivist auf Fußballplätzen und nach eigener Einschätzung selbst gar kein Fan.
Solche Einstellungen sind für Ultras Lachnummern. Ihr Anspruch an sich selbst ist so hoch, daß sie das Deutungsmonopol für Fußball beanspruchen. Wer wochenlang Transparente malt, Fahnen bestickt, Choreographien und Gesänge für den Auftritt auf der Tribüne einstudiert, der kann einen Besucher, der bestenfalls die Nationalhymne mitzusingen weiß, nur mit Verachtung strafen.
Grölen gehört dazu - der erweiterte Kulturbegriff
Gunter A. Pilz, Fußballsoziologe aus Hannover, wußte denn auch, welche drei Feindbilder unter den Fans mittlerweile am ausgeprägtesten sind: Polizei, Verbände, Medien. Und Harald Kaiser vom "Kicker" ergänzte noch ein viertes Feindbild: die VIPs als Benutzer jener Logen und Sitzplätze, für die man die Stadien umgebaut hat, wobei im Regelfall die angestammten Stehplatzbereiche der Ultras beseitigt wurden, weil es Fifa und Uefa so wollten. Mißmutig wird deshalb unter Traditionalisten der Trubel beäugt, den die Weltmeisterschaft von 2006 mit sich bringt.
Das Kulturprogramm etwa, das André Heller im Auftrag der Bundesregierung organisiert, gilt als überflüssiges Beiwerk. Das Interesse der Hochkultur für den Fußball habe er zuvor nicht vermißt, spottete Thomas Schneider von der "Koordinationsstelle Fan-Projekte", die Fanszene habe doch genug eigene Kultur hervorgebracht. Da war er wieder im Spiel: der von der Soziologie erweiterte Kulturbegriff, der eben auch kollektives Gegröle, Gehopse und Geschimpfe umfaßt.
Viel zu ernst für bloßen Spaß
Ein Spielfeld, wo der Elfmeterpunkt nicht mehr auszumachen ist, ist ein Albtraum für den Fan. Aber ein Traum für die Kulturämter, die sich endlich einbilden dürfen, Programme für die Masse zu machen. Anderthalb Millionen Besucher werden im kommenden Jahr allein aus dem Ausland erwartet, und das Goethe-Institut bietet in London vorbereitend schon "Deutsch für Hooligans" an, wie Wolfgang Bader mit feinem Lächeln erzählte. Johann-G. Schlüper ging jahrelang mit seiner Idee für ein erstes deutsches Fußball-Museum hausieren, ehe ihm Bochum auf einer der vielen dortigen Industriebrachen Domizil gewährte. Im Februar 2006 soll Eröffnung sein.
Ob dieses Haus allerdings den Eindruck von Nicole Selmer korrigieren kann, daß nur die katholische Kirche fester in Männerhand sei als der Fußball? Dafür mag die Nürnberger Akademie schon ein geeigneterer Ort sein, doch auch hier sind die Männer noch eindeutig in der Mehrzahl. Elfmal elf Mitglieder strebt man langfristig an, und natürlich wird auch ein Verein gegründet.
Doch an wen sich das Angebot der Akademie richtet (an die Wissenschaft, an die Kunst, an die Fans?), das blieb intern umstritten, und zwar heftig. Kann man verstehen, daß die Menschen sich so aufregen? Natürlich, es handelt sich schließlich um Fußball, eine je nach Betrachtungsweise archaische Veranstaltung (Jürgen Rollmann, Koordinator der Bundesregierung für die WM 2006) oder Einübung in ziviles Verhalten (Dieter H. Jütting, Soziologe). Wie dem auch sei: Für bloßen Spaß ist die Sache viel zu ernst. Und die Akademie denkt nach dem Heimspiel in Nürnberg schon über Auswärtsbegegnungen nach.
Der Ball ist wund - Fussballkultur heute
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