«Wie eine Terror-Fahndung»
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Othmar von Matt,«Schweiz am Sonntag».
Verhaftet, Wohnung durchsucht, im Polizeiwagen nach St. Gallen verfrachtet: Der 28-jährige YB-Fan P.* galt als einer der Hauptverdächtigen der Ausschreitungen vom Mai 2013. Völlig zu Unrecht.
Der Anruf erschien ihm seltsam. Er solle unverzüglich in seinem Büro erscheinen, sobald er in der Schule sei, sagte der Direktor zu Schüler P. Im Büro empfingen diesen dann zwei Herren: Zivilfahnder. Er sei einer der zwei Hauptverdächtigen der Ausschreitungen der YB-Fans vom 4. Mai 2013, eröffneten ihm die Ordnungshüter im März. YB-Fans hatten in St. Gallen eine WC-Anlage demoliert, nachdem ein Kollege wegen Pyros festgenommen wurde. Sachschaden: rund 50 000 Franken.
Die Liste der Straftaten, die P. begangen haben sollte: Sachbeschädigung, Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Verstoss gegen das Vermummungsverbot. «Ich war sehr schockiert», erzählt P. Er ist 28 Jahre alt und steht im letzten Jahr einer Vollzeitausbildung. «Zuerst wollte man mich in Handschellen von der Schule abführen.» Er habe darum gebeten, dies nicht zu tun. Wenigstens darauf hätten die Fahnder verzichtet. Zunächst ging es zu seiner Mutter, wo er nach einem Auslandaufenthalt wohnte. Dort warteten drei weitere Polizisten. Sie durchsuchten P.s Zimmer, den Keller, beschlagnahmten einen Halswärmer, eine Regenjacke einer Berner Ultra-Gruppierung, den Computer und Datenträger. Dann wurde P. im Polizeiwagen zur St. Galler Staatsanwaltschaft verfrachtet. Die Staatsanwältin legte Fotos vor, die P. zeigen sollten. «Ich sah auf Anhieb, dass ich das nicht bin», erzählt er. «Weiter spielten sie mir ein Video der YB-Fans ab.» Ein Pfeil verdeutlichte, wo er sei.
Für die Staatsanwältin schien der Fall klar: gleiche Kleidung, gleiches Aussehen. Doch P. betonte, er sei das nicht. Die Staatsanwältin setzte Druck auf. Man könne ihn auch in U-Haft nehmen, drohte sie. Dann erkannte sich P. plötzlich auf einer Video-Sequenz: Er kommt in grauer Jacke von einem Catering-Stand, Meter von den Ausschreitungen entfernt. Der Staatsanwältin sei die Ernüchterung im Gesicht gestanden. Sie entschuldigte sich knapp: Das passiere sonst nicht.
«Wir beschönigen nichts. Es gab kurze Ausschreitungen und eine kaputte WC-Anlage. Und wer Sachbeschädigungen begeht, soll zur Rechenschaft gezogen werden», sagt Lukas Meier von der Fanarbeit Bern. «Aber was jetzt geschieht, ist rechtsstaatlich extrem bedenklich. Das ist beinahe wie bei einer Terroristen-Fahndung.» 38 YB-Fans hat die St. Galler Staatsanwaltschaft angeklagt. Letzte Woche schrieb sie zehn Personen verpixelt zur Internet-Fahndung aus. Fünf meldeten sich bis gestern Abend. Ab Montag sollen die restlichen Bilder unverpixelt zu sehen sein.
Die Staatsanwaltschaft täuschte sich nicht nur bei einem Hauptverdächtigen. Vier weitere Personen erhielten eine Vorladung, obwohl sie gar nicht in St. Gallen waren. In einem Fall half ein Anwalt. Zwei weitere Fans konnten beweisen, dass sie nicht am Spiel waren. «Und in einem vierten Fall ist die Einsprache noch hängig», sagt Meier. Er spricht von «schlechter Fahndungsarbeit» und bezweifelt, dass «ein kaputtes WC Abholungen, Hausdurchsuchungen und Internet-Fahndung» rechtfertigen. Meier sagt: «Das sind extreme Eingriffe in die persönliche Freiheit.» Es habe keinerlei Verdunkelungsgefahr bestanden. «Da ging jedes Augenmass verloren.»
Im Fokus der Kritik steht Thomas Hansjakob, der leitende Staatsanwalt. Er gilt als Hardliner, der selbst vor Telefonüberwachungen gegen Fans nicht zurückschreckt. Er ordne vorschnell Hausdurchsuchungen an, sagen Fankenner vor Ort. «Man könnte die Fans auch vorladen», sagt Anwältin Manuela Schiller. «Doch man will sie einschüchtern.» Sie wirft Hansjakob vor, «nicht mit gleichen Ellen» zu messen: «In einem Gerichtsverfahren gegen einen FCB-Fan logen zwei Securitas brandschwarz.» Videoaufnahmen hätten das bewiesen. Doch Hansjakob habe kein Verfahren eingeleitet. «Obwohl falsche Anschuldigung und falsches Zeugnis Offizialdelikte sind.» Auch SVP-Nationalrat und Fussballkenner Lukas Reimann findet: «Die Polizei hätte wichtigere Aufgaben, als Fans zu behandeln wie organisierte Kriminelle.»
«Fänden wir die Massnahmen nicht verhältnismässig, würden wir sie nicht anordnen», kontert der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Andreas Baumann. Im Fall der YB-Fans gehe es «um mehrfache schwerwiegende Tatbestände». Dass eine falsche Person verhaftet werde, könne «immer wieder vorkommen». Hansjakob selbst betont, die Hausdurchsuchungen in St. Gallen hätten «allesamt Pyros zum Vorschein gebracht». Er verteidigt die harte Linie: «Mittlerweile haben wir mit den Heimfans nicht mehr die geringsten Probleme, mit Auswärtsfans keine grossen.» P. selbst erhielt nie eine schriftliche Entschuldigung, obwohl er sie anforderte. Auch keine Entschädigung für die Umtriebe. Nur einen Brief mit der Bestätigung der Vorladung. Und, Wochen später, noch die Verfügung, das Verfahren gegen ihn sei eingestellt.
und noch ein Kommentar:
Fussballfans sind kein Freiwild
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/ ... _freiwild/
Die Nachricht: Die St. Galler Staatsanwaltschaft sucht per Internet-Fahndung nach YB-Fans, die 2013 an Ausschreitungen beim Spiel gegen den FC St. Gallen beteiligt waren.
Der Kommentar: Nein, die St. Galler Staatsanwaltschaft führe kein Verfahren gegen YB-Fans, sagte deren Sprecher am 24. Januar 2014, von der «Schweiz am Sonntag» mit entsprechenden Recherchen konfrontiert. Selbst auf den Hinweis, die Kapo bestätige, das Material für die Verfahren der Staatsanwaltschaft übergeben zu haben, spielte der Sprecher den Unwissenden. Erst Staatsanwalt Thomas Hansjakob selbst bestätigte sie. Das sei eine «Notlüge», eine «taktische Lüge» gewesen, sagt der Sprecher heute. Man habe die Verhaftungen nicht gefährden wollen.
Mit Verlaub: Lügt eine offizielle Stelle, in diesem Fall immerhin eine Staatsanwaltschaft, eine Zeitung derart unverfroren an, hinterlässt das einen schalen Nachgeschmack. Umso mehr, wenn sich dann zeigt, dass dieselbe Staatsanwaltschaft einen Unschuldigen zu einem der zwei Hauptverdächtigen macht. Und dazu noch vier Personen vorlädt, die gar nicht erst an besagtem Spiel waren.
Wie ernsthaft sucht diese Staatsanwaltschaft die Wahrheit? Nach bestem Wissen und Gewissen? Unvoreingenommen und ohne Vorverurteilung? So, wie man es von einer Justizbehörde erwarten darf?
Keine Frage: Wer als Fussballfan an Ausschreitungen, Bedrohungen, Landfriedensbrüchen beteiligt ist und gegen das Vermummungsverbot verstösst, soll bestraft werden. Fussballfans sind aber kein Freiwild. Das Hooligan-Konkordat ist kein Freipass dafür, Kernprinzipien des Rechtsstaates wie Verhältnismässigkeit und Unschuldsvermutung ausser Kraft zu setzen. Eine Staatsanwaltschaft darf auch nicht leichtfertig Kollateralschäden in Kauf nehmen. Die Sorgfaltspflicht gilt auch für Fussball-Fans