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FC Thun

Verfasst: 05.08.2005, 08:04
von Bodesurri
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Thun am Donnerstagmorgen: Die Holztribüne im Stadion Lachen ist weiterhin morsch, das Klubsekretariat in vier Blechcontainern untergebracht. Zwei Rentner stehen verloren vor dem Provisorium und diskutieren die Ereignisse des Vorabends: « Was hei die YB fürs Stadion ächt müesse zahle? » , fragt der eine und beweist damit: Erfolg muss nicht blind machen. Stumm horcht ihnen im Schaukasten dahinter das Foto der ersten Mannschaft, Ausgabe 2004/ 05 inklusive Coltorti, Raimondi, Baykal oder Renggli, die lang schon weitergezogen sind.

Gegangen und vergessen. Spieler kommen und gehen, der Erfolg aber bleibt dem FC Thun treu. Die Helden des Augenblicks heissen Bernardi und Leandro, die am Abend zuvor im Stade de Suisse in der 91. Minute gemeinsam das 1: 0 gegen Dynamo Kiew produzierten. Leandro flankte, Bernardi vollstreckte. Die Welt des FC Thun ist deswegen über Nacht und zurück im Lachen nicht grösser geworden u2013 aber um ein kleines Wunder reicher.

Nach dem Sieg trennen die Thuner noch zwei Spiele gegen Malmö von der Champions League und der Antrittsprämie von 7,5 Millionen Franken. 7,5 Millionen. Das wäre eineinhalbmal mehr, als der FC Thun in dieser Saison einzunehmen vorgesehen hat. Und es weckt Begehrlichkeiten. Trainer Urs « Longo » Schönenberger hat schon am Abend zuvor unmittelbar nach dem grossen Sieg ultimativ Verstärkungen für sein dünnes Kader gefordert. Nicht zum ersten Mal. Und Sportchef Werner Gerber hat abgewiegelt.

Auch nicht zum ersten Mal. Eigentlich möchte Gerber schon. Irgendwie steht er aber zwischen den Fronten. Eingeklemmt von den Wünschen des Trainers und der Vorsicht des Präsidenten, der für alles zu haben ist ausser einem unkalkulierbaren finanziellen Risiko. Es ist eine ungleiche Schicksalsgemeinschaft, die in Thun zusammengefunden hat und von Erfolg zu Erfolg eilt. Präsident Kurt Weder, der mit seiner gedrungenen Gestalt, den dicken Brillengläsern und seinen zuweilen hemdsärmligen Umgangsformen so wenig in die Champions League passt wie sein Klub. Trainer Urs Schönenberger, der in Thun die Chance wittert, seine Trainerkarriere neu zu beleben. Und dazwischen der joviale Werner Gerber, der beim FC auf die Euphoriebremse stehen muss, dafür aber als Nachtklubbesitzer umso mehr aufs Gas drückt. Werner Gerber, oder « Gärbi » , wie er sich am Telefon kurz meldet, hat es streng an diesem Morgen. Sein Handy klingelt im Minutentakt: Er muss Spiele verschieben, die Reise nach Malmö organisieren, Journalistenfragen beantworten und dazwischen Spielervermittler vertrösten. Auch sie wittern bereits die Champions- League- Millionen. « Wir geben kein Geld aus, bevor wir es eingenommen haben » , blockt er.

Noch wird in Thun gerechnet, wie viel der Sieg gegen Kiew wert ist. Reich wird er den Klub nicht machen. Einzig die Zuschauereinnahmen flossen in die Kasse der Thuner, alles andere, beispielsweise die Einnahmen aus Werbung und Restauration, blieb bei den Betreibern des Stade de Suisse, die überdies auch eine Miete kassieren, die zuschauerabhängig ist. Für sie war das Spiel mindestens so lukrativ wie für den FC Thun.

Während Gerber gerade wieder telefoniert, winkt eine Gruppe Jogger « Longo » Schönenberger zu, der auf einem Bretterzaun hockt. Ein Rentner, der sich um die zwei TV- Kameras am Trainingsfeld herumdrückt, sagt: « Es muss nun einmal gesagt sein. Die Medien haben ihn ja schlecht gemacht, noch bevor er hier war.

Aber Longo ist für uns ein absoluter Glücksgriff. » Wahrscheinlich hat derselbe Rentner zur breiten Fraktion gehört, die im vergangenen Dezember, als sich Hanspeter Latour Richtung Zürich verabschiedete, vorsorglich das Ende des Thuner Höhenflugs beklagte. Der Thuner Stadtrat versuchte in einem offenen Brief, Latour in Thun zu halten. Das ist weit weg. Tränen für Latour? Keine Spur mehr. Das Leben geht weiter, und wer weiss: Vielleicht trauert ja Latour dem FC Thun mittlerweile mehr nach, als Thun Latour nachtrauert.

Thun könnte ganz Europa verblüffen

Urs Schönenberger reagiert leicht säuerlich auf Fragen, die auf seinen populären Vorgänger und dessen Erbe zielen. Zu viel hat er sie gehört, zu getrübt ist sein Verhältnis zu Latour. Er sagt: « Meine Arbeit müssen andere beurteilen. Ich sage nur so viel: Ich konnte in Thun eigentlich nur verlieren, und bisher habe ich praktisch nur gewonnen. » Recht hat er. Schönenberger ist mittlerweile ein Teil des Thuner Fussballwunders, das sich stets von neuem erneuert.

100- mal wurde sein Ende beschworen, und 101- mal hat es sich selber noch einmal übertroffen. Und die Geschichte geht weiter. Warum, weiss niemand ganz genau. Was gesagt wird, bleibt Vermutung. Letztlich aber ist das auch egal. Sicher ist: Die Qualifikation für die Champions League wäre eine Sensation, die nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa verblüffen würde. Die Skeptiker sehen schwarz: « Malmö wird dem Ganzen nun endgültig ein Ende bereiten. » Beste Aussichten also, dass das Wunder weitergehen kann.
Urs Schönenberger forderte nach dem Sieg Verstärkungen für das dünne Kader.