Diego Maradona - Ein Che Guevara ohne Ernstfall Teil 1
Verfasst: 18.05.2005, 09:56
ein ausgezeichneter (sehr langer) artikel aus der heutigen nzz, die sich mit dem phänomen maradonna und argentinien beschäftig! wert gelesen zu werden!
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8. Mai 2005, Neue Zürcher Zeitung
Ein Che Guevara ohne Ernstfall
Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur
Ein in Argentinien häufig erzählter Witz besagt, dass es vier Arten von Ländern gibt: entwickelte, unterentwickelte, Japan, von dem niemand weiss, warum es entwickelt ist, und Argentinien, von dem niemand weiss, warum es unterentwickelt ist. Über solche Witzeleien hinaus kann die Symmetrie zwischen der nationalen Leitfigur Diego Maradona und denen, die ihn zum Idol erkoren haben, dazu beitragen, die Besonderheit der argentinischen Verhältnisse zu erklären. Zwar ist der Begriff der «nationalen Identität» von vager Allgemeinheit und trägt oft nur zur Mystifizierung der Tatsachen bei. Doch welche Vorbilder sich eine Gesellschaft erwählt, ist weder Zufall noch reine Willkür.
Von Neapel nach Neapel
Der Niedergang des Sterns Maradona hatte schon Ende der achtziger Jahre begonnen. Dennoch liefern die Massenmedien mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausschluss von der Fussball- WM in den USA (1994), der das Ende seiner internationalen Karriere bedeutete, regelmässig Nachrichten über die Stationen seines Kreuzwegs. Wie John Lennon einst mit Bezug auf die Beatles könnte Maradona heute sagen, er sei berühmter als Jesus Christus. Vielleicht verdankt er diesen Ruhm der Tatsache, dass er nicht nur einmal, sondern zweimal auferstanden ist: nach zwei verschiedenen Episoden, bei denen er jedes Mal für tot erklärt worden war. Eine solche Leistung rechtfertigt den Titel, den ihm seine Landsleute verliehen haben: «D10S», mit seiner Nummer 10 im spanischen Wort für Gott.
Es gibt vielerlei Gründe, weshalb die Popularität Maradonas während seines sportlichen und persönlichen Verfalls so rasant angestiegen ist. In einer politisch korrekten Welt, wo sich Politiker aller Schattierungen Mühe geben, Konflikte zu vermeiden, auch um den Preis, dass ihre Worte nichts mehr sagen, bringt die lockere Nonchalance der öffentlichen Erklärungen Maradonas einen frischen Wind und den Geschmack des Verbotenen. Vergleicht man Bush mit Kennedy, Berlusconi mit Mussolini, Chirac mit de Gaulle oder Blair mit Churchill, kann man nicht nur die unaufhaltsame Schwächung der Rolle der Nationalstaaten ermessen, sondern auch den Verfall der schauspielerischen Tugenden in einer Zeit, die man paradoxerweise als «Ära der Bilderflut» bezeichnet hat. Die letzten Meldungen von Diegos Kampf gegen die Welt stammen nicht aus Kuba, sondern aus dem Venezuela von Oberst Chávez, wo er seiner Rolle als schwarzer Papst treu geblieben ist, als er den versprochenen Waffenlieferungen an den populistischen Präsidenten Venezuelas durch die Regierungschefs von Brasilien und Spanien seinen Segen gab.
Immer wenn italienische Freunde von mir zum ersten Mal nach Argentinien kommen, begrüsse ich sie am Flughafen mit den Worten: «Benvenuti a Napoli.» Vom Stadtrand von Buenos Aires zur sozialen Peripherie von Neapel ist es nicht weit. Für die Welt ist Maradona der Inbegriff der «neapolitanischen» Charakterzüge der argentinischen Gesellschaft: Genialität, aber auch Korruption; Kreativität und Missachtung aller Regeln; Talent, aber geringer Arbeitseifer; viele Tugenden im Privaten, aber allzu viele Laster im öffentlichen Bereich. Der Erfolg Maradonas als Idol von Argentiniern und Neapolitanern scheint - zusammen mit dem relativen Misserfolg in Barcelona und der Verachtung, die ihm die restliche italienische Gesellschaft entgegenbringt - den Platz zu bestätigen, den ihm die globale Alltagsmythologie zugewiesen hat.
Zwei Tore eines argentinischen Gottes
Das Ereignis, das die Ambivalenz dieses «Genies ohne Regeln» symbolisiert, ist das Spiel zwischen England und Argentinien an der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Maradona schoss damals die zwei berühmtesten und sinnbildlichsten Tore seiner Karriere. Beim ersten sprang er nach einem Ball, der in die Strafraummitte geflankt worden war, und kam dem Torhüter zuvor, indem er den Ball versteckt mit der Faust ins Tor beförderte. Beim zweiten Tor, das die englische Mannschaft aus dem Turnier warf und von den argentinischen Medien als «Rache für Falkland» bezeichnet wurde, lief Maradona mit dem Ball am Fuss über das halbe Spielfeld und durch die ganze englische Verteidigung und erzielte eines der schönsten Tore überhaupt.
In der Umkleidekabine klärte Maradona das «Geheimnis» des ersten Tors auf, das für das Auge der angeblich allwissenden Fernsehkameras unsichtbar blieb: «Es war die Hand Gottes», sagte er - ein Spruch, der ihn bis zu seinen jüngsten Auferstehungen begleiten sollte. Nicht zufällig reimt sich seine Erklärung mit einer verbreiteten Redensart, die man in Argentinien oft hört, wenn die Bewohner des Landes mit ihrem Latein am Ende sind: Machen wir uns keine Sorgen, irgendeine Lösung wird sich schon finden, denn «Gott ist Argentinier».
Auch wenn er von den Anhängern des volkstümlichsten Fussballvereins, Boca Juniors, besonders verehrt wird, ist die Liebe zu Maradona doch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und dem «Bekenntnis» zu einem der argentinischen Fussballklubs. Die Gültigkeit des Mythos von der göttlichen Nummer 10 und der mythopoetischen Liebe zwischen ihm und weiten Teilen der Einwohnerschaft ist ungebrochen. Viele Argentinier verehren Maradona wegen des Talents, das sein zweites Tor gegen England versinnbildlicht. Andere wegen der «kreolischen Schläue» (ein anderer nationaler Mythos), mit welcher er den ersten Treffer erzielte. Manche verabscheuen ihn auch, aber keinem ist er gleichgültig. Der Gegensatz zwischen der volkstümlichen Maradona-Partei und den Antimaradonisten ist ein ethischer. Eine Befragung hinsichtlich der Vorliebe für das von der «Hand Gottes» erschwindelte Tor oder für das perfekte Dribbling würde Argentinien in zwei unversöhnliche Gruppen teilen, die sich wechselseitig beschuldigen, den Ruin des Landes verursacht zu haben: sei es durch ein Übermass an Naivität in einer Welt gnadenloser Interessen, sei es durch den Zynismus der Korruption.
Maradona wird nicht nur im Ausland als der Vertreter Argentiniens wahrgenommen, er dient auch als Spiegel, in dem sich die Argentinier selbst betrachten. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Staatssekretariats für Massenmedien ergab, dass ihn mehr als die Hälfte der Befragten als ihr nationales Idol nannten. Wie in einem doppelten Spiegel wird Maradona so zum Dolmetscher jenes unentwirrbaren Widerspruchs, den in den Augen vieler Beobachter die Republik Argentinien darstellt: ein Land auf halbem Weg zwischen seiner europäischen Tradition und seinen lateinamerikanischen Wurzeln, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, zwischen einer glänzenden Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft; ein Land mit riesigen natürlichen Ressourcen und spärlicher Bevölkerung, von der die Hälfte unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.
Ein Leben zwischen Himmel und Hölle
Maradonas Unfähigkeit zu systematischer Anstrengung findet ein Gegengewicht in seinem unglaublichen Gespür für heroische Gesten: Einerseits fehlte er gern im Training, andererseits spielte er mit dick angeschwollenem Knöchel. Seine Verachtung für soziale Regeln, die er gern als falsch und verlogen verhöhnt, verbindet sich mit einem hemmungslosen medialen Komödiantentum - zwei Züge, die die argentinische Kultur der letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnen. Was Maradona und die ihn bewundernde Gesellschaft aber vor allem gemeinsam haben, sind ungebremste Allmachtsphantasien, die paradoxerweise mit einer stilisierten Neigung zum Selbstmitleid in der Opferrolle einhergehen. Wer glaubt, der Allerbeste zu sein, dann aber scheitert, wird den Misserfolg kaum auf eigene Fehler zurückführen. Deshalb ist Argentinien ein Land, das aus seinen Fehlern nichts lernt und zwischen zwei ideologischen Extremen schwankt, die beide davon ausgehen, dass die Methode der Tabula rasa die beste von allen sei.
Die Unfähigkeit zur Selbstkritik veranlasst viele, sich mit einem Hof professioneller Schmeichler zu umgeben - eine auffällige Schwäche fast aller politischen Führer seit Perón, von Maradona zur höchsten Blüte getrieben - und die Schuld für die eigenen Irrtümer irgendeinem undurchsichtigen Komplott zuzuweisen. So führte die gesamte argentinische Linke der siebziger Jahre sämtliche Übel des Landes auf den amerikanischen Imperialismus zurück. Die folgende Militärdiktatur rechtfertigte den systematischen Massenmord, begangen zur Verteidigung des «nationalen Wesens», mit der «heimatlosen Anarchie der Marxisten» und bezeichnete die Proteste, die im Ausland wegen der horrenden Menschenrechtsverletzungen laut wurden, als «antiargentinisches Komplott». Und die bekannteste Vertreterin des Kampfes gegen die Diktatur und Vorsitzende der Vereinigung der Madres de Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, besteht noch heute darauf, dass der Mord an dreissigtausend Argentiniern das Werk der Nordamerikaner gewesen sei.
Im Fall von Maradona bezieht sich die Paranoia der Verschwörung auf die angeblichen Machenschaften von Julio Grondona, Präsident des argentinischen Fussballverbands, Corrado Ferlaino, Präsident der SSC Napoli, den italienischen Fussballverband, die Fifa João Havelanges und die argentinische Bundespolizei, wobei die drei Letztgenannten schuld sein sollen an den zahlreichen Disqualifizierungen wegen Dopings, die der «Diego des Volks» - so der Titel seiner Autobiografie - erlitten hat.
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8. Mai 2005, Neue Zürcher Zeitung
Ein Che Guevara ohne Ernstfall
Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur
Ein in Argentinien häufig erzählter Witz besagt, dass es vier Arten von Ländern gibt: entwickelte, unterentwickelte, Japan, von dem niemand weiss, warum es entwickelt ist, und Argentinien, von dem niemand weiss, warum es unterentwickelt ist. Über solche Witzeleien hinaus kann die Symmetrie zwischen der nationalen Leitfigur Diego Maradona und denen, die ihn zum Idol erkoren haben, dazu beitragen, die Besonderheit der argentinischen Verhältnisse zu erklären. Zwar ist der Begriff der «nationalen Identität» von vager Allgemeinheit und trägt oft nur zur Mystifizierung der Tatsachen bei. Doch welche Vorbilder sich eine Gesellschaft erwählt, ist weder Zufall noch reine Willkür.
Von Neapel nach Neapel
Der Niedergang des Sterns Maradona hatte schon Ende der achtziger Jahre begonnen. Dennoch liefern die Massenmedien mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausschluss von der Fussball- WM in den USA (1994), der das Ende seiner internationalen Karriere bedeutete, regelmässig Nachrichten über die Stationen seines Kreuzwegs. Wie John Lennon einst mit Bezug auf die Beatles könnte Maradona heute sagen, er sei berühmter als Jesus Christus. Vielleicht verdankt er diesen Ruhm der Tatsache, dass er nicht nur einmal, sondern zweimal auferstanden ist: nach zwei verschiedenen Episoden, bei denen er jedes Mal für tot erklärt worden war. Eine solche Leistung rechtfertigt den Titel, den ihm seine Landsleute verliehen haben: «D10S», mit seiner Nummer 10 im spanischen Wort für Gott.
Es gibt vielerlei Gründe, weshalb die Popularität Maradonas während seines sportlichen und persönlichen Verfalls so rasant angestiegen ist. In einer politisch korrekten Welt, wo sich Politiker aller Schattierungen Mühe geben, Konflikte zu vermeiden, auch um den Preis, dass ihre Worte nichts mehr sagen, bringt die lockere Nonchalance der öffentlichen Erklärungen Maradonas einen frischen Wind und den Geschmack des Verbotenen. Vergleicht man Bush mit Kennedy, Berlusconi mit Mussolini, Chirac mit de Gaulle oder Blair mit Churchill, kann man nicht nur die unaufhaltsame Schwächung der Rolle der Nationalstaaten ermessen, sondern auch den Verfall der schauspielerischen Tugenden in einer Zeit, die man paradoxerweise als «Ära der Bilderflut» bezeichnet hat. Die letzten Meldungen von Diegos Kampf gegen die Welt stammen nicht aus Kuba, sondern aus dem Venezuela von Oberst Chávez, wo er seiner Rolle als schwarzer Papst treu geblieben ist, als er den versprochenen Waffenlieferungen an den populistischen Präsidenten Venezuelas durch die Regierungschefs von Brasilien und Spanien seinen Segen gab.
Immer wenn italienische Freunde von mir zum ersten Mal nach Argentinien kommen, begrüsse ich sie am Flughafen mit den Worten: «Benvenuti a Napoli.» Vom Stadtrand von Buenos Aires zur sozialen Peripherie von Neapel ist es nicht weit. Für die Welt ist Maradona der Inbegriff der «neapolitanischen» Charakterzüge der argentinischen Gesellschaft: Genialität, aber auch Korruption; Kreativität und Missachtung aller Regeln; Talent, aber geringer Arbeitseifer; viele Tugenden im Privaten, aber allzu viele Laster im öffentlichen Bereich. Der Erfolg Maradonas als Idol von Argentiniern und Neapolitanern scheint - zusammen mit dem relativen Misserfolg in Barcelona und der Verachtung, die ihm die restliche italienische Gesellschaft entgegenbringt - den Platz zu bestätigen, den ihm die globale Alltagsmythologie zugewiesen hat.
Zwei Tore eines argentinischen Gottes
Das Ereignis, das die Ambivalenz dieses «Genies ohne Regeln» symbolisiert, ist das Spiel zwischen England und Argentinien an der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Maradona schoss damals die zwei berühmtesten und sinnbildlichsten Tore seiner Karriere. Beim ersten sprang er nach einem Ball, der in die Strafraummitte geflankt worden war, und kam dem Torhüter zuvor, indem er den Ball versteckt mit der Faust ins Tor beförderte. Beim zweiten Tor, das die englische Mannschaft aus dem Turnier warf und von den argentinischen Medien als «Rache für Falkland» bezeichnet wurde, lief Maradona mit dem Ball am Fuss über das halbe Spielfeld und durch die ganze englische Verteidigung und erzielte eines der schönsten Tore überhaupt.
In der Umkleidekabine klärte Maradona das «Geheimnis» des ersten Tors auf, das für das Auge der angeblich allwissenden Fernsehkameras unsichtbar blieb: «Es war die Hand Gottes», sagte er - ein Spruch, der ihn bis zu seinen jüngsten Auferstehungen begleiten sollte. Nicht zufällig reimt sich seine Erklärung mit einer verbreiteten Redensart, die man in Argentinien oft hört, wenn die Bewohner des Landes mit ihrem Latein am Ende sind: Machen wir uns keine Sorgen, irgendeine Lösung wird sich schon finden, denn «Gott ist Argentinier».
Auch wenn er von den Anhängern des volkstümlichsten Fussballvereins, Boca Juniors, besonders verehrt wird, ist die Liebe zu Maradona doch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und dem «Bekenntnis» zu einem der argentinischen Fussballklubs. Die Gültigkeit des Mythos von der göttlichen Nummer 10 und der mythopoetischen Liebe zwischen ihm und weiten Teilen der Einwohnerschaft ist ungebrochen. Viele Argentinier verehren Maradona wegen des Talents, das sein zweites Tor gegen England versinnbildlicht. Andere wegen der «kreolischen Schläue» (ein anderer nationaler Mythos), mit welcher er den ersten Treffer erzielte. Manche verabscheuen ihn auch, aber keinem ist er gleichgültig. Der Gegensatz zwischen der volkstümlichen Maradona-Partei und den Antimaradonisten ist ein ethischer. Eine Befragung hinsichtlich der Vorliebe für das von der «Hand Gottes» erschwindelte Tor oder für das perfekte Dribbling würde Argentinien in zwei unversöhnliche Gruppen teilen, die sich wechselseitig beschuldigen, den Ruin des Landes verursacht zu haben: sei es durch ein Übermass an Naivität in einer Welt gnadenloser Interessen, sei es durch den Zynismus der Korruption.
Maradona wird nicht nur im Ausland als der Vertreter Argentiniens wahrgenommen, er dient auch als Spiegel, in dem sich die Argentinier selbst betrachten. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Staatssekretariats für Massenmedien ergab, dass ihn mehr als die Hälfte der Befragten als ihr nationales Idol nannten. Wie in einem doppelten Spiegel wird Maradona so zum Dolmetscher jenes unentwirrbaren Widerspruchs, den in den Augen vieler Beobachter die Republik Argentinien darstellt: ein Land auf halbem Weg zwischen seiner europäischen Tradition und seinen lateinamerikanischen Wurzeln, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, zwischen einer glänzenden Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft; ein Land mit riesigen natürlichen Ressourcen und spärlicher Bevölkerung, von der die Hälfte unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.
Ein Leben zwischen Himmel und Hölle
Maradonas Unfähigkeit zu systematischer Anstrengung findet ein Gegengewicht in seinem unglaublichen Gespür für heroische Gesten: Einerseits fehlte er gern im Training, andererseits spielte er mit dick angeschwollenem Knöchel. Seine Verachtung für soziale Regeln, die er gern als falsch und verlogen verhöhnt, verbindet sich mit einem hemmungslosen medialen Komödiantentum - zwei Züge, die die argentinische Kultur der letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnen. Was Maradona und die ihn bewundernde Gesellschaft aber vor allem gemeinsam haben, sind ungebremste Allmachtsphantasien, die paradoxerweise mit einer stilisierten Neigung zum Selbstmitleid in der Opferrolle einhergehen. Wer glaubt, der Allerbeste zu sein, dann aber scheitert, wird den Misserfolg kaum auf eigene Fehler zurückführen. Deshalb ist Argentinien ein Land, das aus seinen Fehlern nichts lernt und zwischen zwei ideologischen Extremen schwankt, die beide davon ausgehen, dass die Methode der Tabula rasa die beste von allen sei.
Die Unfähigkeit zur Selbstkritik veranlasst viele, sich mit einem Hof professioneller Schmeichler zu umgeben - eine auffällige Schwäche fast aller politischen Führer seit Perón, von Maradona zur höchsten Blüte getrieben - und die Schuld für die eigenen Irrtümer irgendeinem undurchsichtigen Komplott zuzuweisen. So führte die gesamte argentinische Linke der siebziger Jahre sämtliche Übel des Landes auf den amerikanischen Imperialismus zurück. Die folgende Militärdiktatur rechtfertigte den systematischen Massenmord, begangen zur Verteidigung des «nationalen Wesens», mit der «heimatlosen Anarchie der Marxisten» und bezeichnete die Proteste, die im Ausland wegen der horrenden Menschenrechtsverletzungen laut wurden, als «antiargentinisches Komplott». Und die bekannteste Vertreterin des Kampfes gegen die Diktatur und Vorsitzende der Vereinigung der Madres de Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, besteht noch heute darauf, dass der Mord an dreissigtausend Argentiniern das Werk der Nordamerikaner gewesen sei.
Im Fall von Maradona bezieht sich die Paranoia der Verschwörung auf die angeblichen Machenschaften von Julio Grondona, Präsident des argentinischen Fussballverbands, Corrado Ferlaino, Präsident der SSC Napoli, den italienischen Fussballverband, die Fifa João Havelanges und die argentinische Bundespolizei, wobei die drei Letztgenannten schuld sein sollen an den zahlreichen Disqualifizierungen wegen Dopings, die der «Diego des Volks» - so der Titel seiner Autobiografie - erlitten hat.