FC Chelsea - ein Portrait
Verfasst: 25.04.2005, 18:36
Weltwoche -- 16/05
London, gefühlsecht
Von Simon Kuper*
Noch 1994 war Chelsea ein Aphrodisiakum für Nekrophile: Kaffee galt als exotisch, über Fussball wurde nur gelallt. Heute brummt hier das Leben: Seit ein russischer Milliardär den FC Chelsea an die Fussballweltspitze kaufte, ist der Vorort die Hochglanzseite der britischen Metropole.
Es war der Tag nach den Anschlägen vom 11. September: Weltweit wurden Passagierflüge abgesagt; in einem Hotel am Londoner Flughafen Heathrow sassen gestrandete amerikanische Reisende vor den TV-Schirmen und starrten immer wieder auf die Bilder von den in die Türme einschlagenden Maschinen.
Plötzlich torkelten ein paar Kicker des FC Chelsea herein. Am Morgen war ihr Flug nach Bulgarien, zu einem Uefa-Cup-Spiel, abgesagt worden. Was tun mit einem freien Tag? Sich besaufen, was sonst. Frank Lampard, John Terry, Eidur Gudjohnsen und Jody Morris waren von Pub zu Pub gezogen, hatten die Hosen runtergelassen, gekotzt, sich in einem Bowlingzentrum wie menschliche Kugeln die Bahn entlangschlittern lassen; jetzt entblössten sie sich, fluchten und bewarfen die deprimierten Amerikaner mit Erdnüssen.
Genau so stellte man sich Chelsea-Spieler vor. Jahrzehntelang hat der Londoner Klub mehr Säufer, Rassisten und Hooligans angezogen als anständige Fussballer. Am 12. September 2001 sprach angesichts von vielleicht hundert Millionen Pfund Schulden viel dafür, dass für Chelsea bald die letzte Stunde schlagen würde. Kaum jemand hätte dem Klub eine Träne nachgeweint.
Heute hat Chelsea die vielleicht beste Elf der Welt. Diesen Monat brillierten Lampard, Terry und Gudjohnsen im Viertelfinal der Champions League, in dem sie Bayern München ausschalteten. Der Verein ist so reich, dass er den Transfermarkt praktisch in der Tasche hat. Das liegt natürlich daran, dass der russische Oligarch Roman Abramowitsch vor kurzem beschloss, Chelsea zu kaufen. Dass er es tat, kam nicht einfach so: Chelsea ist einer der grossen Fussballvereine der Welt geworden, weil London eine der grossen Metropolen der Welt geworden ist.
Ständig blau
Obwohl in Grossbritannien ein absurdes Übermass an Zentralismus herrscht, war seine Hauptstadt früher selten für Spitzenfussball gut. In der viktorianischen Epoche kamen die Klubs, die die englische Meisterschaft unter sich ausmachten, aus nördlichen Industriestädten wie Preston, Sheffield oder Sunderland, die damals zu den reichsten Orten der Welt gehörten. Als sie verarmten und sich keine Spitzenklubs mehr leisten konnten, wanderte die Meisterschale in die grösseren Städte des Nordens ab.
Der FC Chelsea war lange nur ein Verein für die Arbeiterschaft des Londoner Westens. Tony Banks, später Sportminister einer Labour-Regierung, erinnert sich daran, zu den Spielen mit demselben Bus gefahren zu sein wie ein anderer Junge aus West-London, John Major, der spätere Premierminister der Konservativen. Einmal, 1955, wurde der FC englischer Meister. Zehn Jahre später stand er kurz davor, das Kunststück zu wiederholen, doch dann schlichen sich eines Nachts acht Chelsea-Spieler aus ihrem Hotel, um einen draufzumachen. Ihr Manager Tommy Docherty, von einem Hotelangestellten informiert, kaufte für die acht Zugtickets nach London und schickte sie heim. Am Nachmittag verlor der FC Chelsea gegen Burnley 2:6. Seither kam er nie wieder auf Tuchfühlung mit dem Meistertitel, bis zu diesem Frühjahr.
Anfang der siebziger Jahre hatte Chelsea ein gutes Team, das den FA-Cup gewann und den Europacup der Pokalsieger. Es war die Zeit, als die Kingu2019s Road in Chelsea sich zur international beachteten Modemeile mauserte u2013 Malcolm McLaren und Vivienne Westwood hatten dort eine Boutique namens Sex u2013 und das Stadtviertel schick wurde. Einmal liess sich sogar Raquel Welch im Stadion blicken. Doch die Chelsea-Stars tranken zu viel und fanden es zu anstrengend, jede Woche zu gewinnen. In Chelsea hatte man das nicht nötig. Als der Klub sich eine neue Tribüne leistete, geriet er mit drei Millionen Pfund in die Kreide, und fortan wuchs der Schuldenberg stetig, bis 1982 ein grössenwahnsinniger Milchfarmer namens Ken Bates den Verein kaufte u2013 für ein Pfund, und mehr war er auch nicht wert.
Chelsea widerspiegelte damals die Hässlichkeit einer armen, heruntergekommenen und rassistischen Stadt. Paul Canoville, der 1981 als erster Farbiger überhaupt zum FC Chelsea stiess, wurde aus der Shed-Kurve, von den Fans des eigenen Klubs, regelmässig mit Bananen beworfen. Trevor Phillips, der farbige Vorsitzende der britischen Staatskommission für die Gleichberechtigung der Rassen, erzählte mir: «Ich bin jetzt seit 15 Jahren Anhänger von Chelsea. Aber es gab eine lange Zeit, in der ich, obwohl ich an der Fulham Road wohnte, nicht hingehen konnte, weil ich der einzige Schwarze in der Shed-Kurve gewesen wäre.» Noch dazu war eine Zeit lang Dart-Werfen das beliebteste Spiel in der Shed. Phillips deutete auf seinen Kopf: «Hier, ich bin das Schwarze!»
Als ich 1994, nach einem Jahr in Boston, nach London zurückkehrte, war die Stadt ein Schock für mich. Müde Menschen in Grau warteten auf überfüllten Bahnsteigen auf U-Bahn-Züge aus den fünfziger Jahren. Kaffee war ein exotisches Getränk, das man fast nirgendwo bekam, wie Götterspeise. Im Freien eine Mahlzeit einzunehmen, war polizeilich verboten, wegen imaginärer Brandgefahr. Das Stadtzentrum war unbewohnt und machte um 11 Uhr nachts dicht.
Und die Fussballvereine waren fürchterlich. Chelsea war zwar wieder in der Premier League, aber sie hatten einen Mittelstürmer namens Paul Furlong, der ein so bescheidener Fussballer war, dass die Chelsea-Fans ihm den Spitznamen «Fuck off Furlong» verpassten. Ich kann mich an ein Tor von ihm erinnern: Der Torwart von Real Saragossa drosch Furlong den Ball genau ins Gesicht, und er tropfte aus 20 Metern ins Netz. Furlong freute sich riesig.
Nostalgische Zeitungen verbandelten Chelsea damals gern mit Londons Glamourwelt, obwohl sie nicht viele prominente Chelsea-Fans nennen konnten ausser dem farblosen John Major und seinem Minister David Mellor. Mellor hatte vor allem durch eine Affäre mit einer spanischen Schauspielerin von sich reden gemacht. Laut News of the World hatte sie gesagt, der (unvorstellbar hässliche) Minister habe im Bett immer darauf bestanden, seine Chelsea-Sachen zu tragen: Trikot und Socken, nur die Hose nicht. Solche Details faszinierten zwar die Nation, mit Glamour hatte das aber nicht viel zu tun.
Alles Spitze
Doch gerade um diese Zeit, Mitte der neunziger Jahre, begann in London alles anders zu werden. Heute ist es die reichste und kosmopolitischste Stadt Europas, und seine Fussballvereine stehen auf einmal an der Spitze der englischen Liga, dominieren den FA Cup und die Champions League. Londons grosses Glück war, dass sein grosser und traditionsreicher Wirtschaftszweig, das weltweite Finanzgeschäft, ab Mitte der neunziger Jahre durchstartete. Die Finanzmärkte hatten Hochkonjunktur, und das globale Geschehen konzentrierte sich zunehmend auf drei Finanzplätze: Tokio, New York und London. In dem Mass, wie sich die Technologie des Börsengeschäfts verbesserte, schlossen internationale Finanzhäuser ihre Niederlassungen in Frankfurt und Mailand und verlegten ihre Leute nach London. Nirgendwo anders finde man so qualifizierte Mitarbeiter, sagten die Banken.
Kosmopoliten fühlten sich in einer Stadt zu Hause, in der 300 Sprachen gesprochen wurden und wo 95 Prozent aller befragten Einwohner der Aussage zustimmten, es sei «eine gute Sache, dass Grossbritannien eine multikulturelle Gesellschaft ist». London nimmt heute 200000 Einwanderer pro Jahr auf, ein Drittel seiner Einwohner ist ausserhalb des Vereinigten Königreichs geboren.
London ist zu einer Weltstadt geworden, abgenabelt vom Rest Grossbritanniens. «Das Land ist gespalten», diagnostiziert Daniel Dorling, Geografieprofessor an der Universität von Sheffield. Ausserhalb Londons registriert er «Grossstadtinseln, die offenbar langsam absinken, demografisch, sozial und wirtschaftlich. Das Vereinigte Königreich erscheint zunehmend wie ein Stadtstaat.»
Saufen ist out, shoppen ist in
Londons neuer Wohlstand fand bald seinen Weg durch die Fulham Road zur Stamford Bridge. In den frühen neunziger Jahren übernahm einer aus der wachsenden Schar der Londoner Multimillionäre, der Versicherungsmogul Matthew Harding, die Finanzierung des FC Chelsea. 1996 starb er bei einem Hubschrauberabsturz, doch um diese Zeit befand sich der Londoner Aktienmarkt in einer solchen Hausse, dass sogar Fussballklubs nach oben geschwemmt wurden. Chelsea machte den Boom im Gewand einer Firma namens «Chelsea Village» mit. Fussball war nur einer ihrer Geschäftsbereiche, ansonsten baute die Firma an der Stamford Bridge überteuerte Hotels und Restaurants. Der Klub rückte von seiner Tradition ab, schlechte oder versoffene britische Kicker zu kaufen, und begann fähige Ausländer unter Vertrag zu nehmen. Der Holländer Ruud Gullit kam 1995. Einen wie ihn hatte man an der Stamford Bridge noch nie erlebt. Gullit hatte allein mehr Pokale gewonnen als der FC Chelsea. Ausserdem trank er nicht.
1996 übernahm Gullit das Management des Klubs. Er holte Spieler wie Frank Lebu0153uf, Gianfranco Zola und den gebürtigen Schweizer Roberto Di Matteo. Paul Furlong musste dem italienischen Nationalstürmer Gianluca Vialli weichen. Die Neuen fanden sich schnell zurecht. Di Matteo beeindruckte nach seiner ersten Partie für Chelsea in Southampton einen zwölfjährigen Autogrammjäger mit einer Widmung: «Fuck off», schrieb er auf die Mütze des Jungen. Vielleicht waren es die einzigen englischen Wörter, die er kannte. Der Junge, zufällig der Bruder eines Southamptoner Spielers, erzählte der Presse später: «Ich sah, wie sich ein seltsames Lächeln auf Di Matteos Gesicht ausbreitete, als er mir den Kuli zurückgab.»
London, gefühlsecht
Von Simon Kuper*
Noch 1994 war Chelsea ein Aphrodisiakum für Nekrophile: Kaffee galt als exotisch, über Fussball wurde nur gelallt. Heute brummt hier das Leben: Seit ein russischer Milliardär den FC Chelsea an die Fussballweltspitze kaufte, ist der Vorort die Hochglanzseite der britischen Metropole.
Es war der Tag nach den Anschlägen vom 11. September: Weltweit wurden Passagierflüge abgesagt; in einem Hotel am Londoner Flughafen Heathrow sassen gestrandete amerikanische Reisende vor den TV-Schirmen und starrten immer wieder auf die Bilder von den in die Türme einschlagenden Maschinen.
Plötzlich torkelten ein paar Kicker des FC Chelsea herein. Am Morgen war ihr Flug nach Bulgarien, zu einem Uefa-Cup-Spiel, abgesagt worden. Was tun mit einem freien Tag? Sich besaufen, was sonst. Frank Lampard, John Terry, Eidur Gudjohnsen und Jody Morris waren von Pub zu Pub gezogen, hatten die Hosen runtergelassen, gekotzt, sich in einem Bowlingzentrum wie menschliche Kugeln die Bahn entlangschlittern lassen; jetzt entblössten sie sich, fluchten und bewarfen die deprimierten Amerikaner mit Erdnüssen.
Genau so stellte man sich Chelsea-Spieler vor. Jahrzehntelang hat der Londoner Klub mehr Säufer, Rassisten und Hooligans angezogen als anständige Fussballer. Am 12. September 2001 sprach angesichts von vielleicht hundert Millionen Pfund Schulden viel dafür, dass für Chelsea bald die letzte Stunde schlagen würde. Kaum jemand hätte dem Klub eine Träne nachgeweint.
Heute hat Chelsea die vielleicht beste Elf der Welt. Diesen Monat brillierten Lampard, Terry und Gudjohnsen im Viertelfinal der Champions League, in dem sie Bayern München ausschalteten. Der Verein ist so reich, dass er den Transfermarkt praktisch in der Tasche hat. Das liegt natürlich daran, dass der russische Oligarch Roman Abramowitsch vor kurzem beschloss, Chelsea zu kaufen. Dass er es tat, kam nicht einfach so: Chelsea ist einer der grossen Fussballvereine der Welt geworden, weil London eine der grossen Metropolen der Welt geworden ist.
Ständig blau
Obwohl in Grossbritannien ein absurdes Übermass an Zentralismus herrscht, war seine Hauptstadt früher selten für Spitzenfussball gut. In der viktorianischen Epoche kamen die Klubs, die die englische Meisterschaft unter sich ausmachten, aus nördlichen Industriestädten wie Preston, Sheffield oder Sunderland, die damals zu den reichsten Orten der Welt gehörten. Als sie verarmten und sich keine Spitzenklubs mehr leisten konnten, wanderte die Meisterschale in die grösseren Städte des Nordens ab.
Der FC Chelsea war lange nur ein Verein für die Arbeiterschaft des Londoner Westens. Tony Banks, später Sportminister einer Labour-Regierung, erinnert sich daran, zu den Spielen mit demselben Bus gefahren zu sein wie ein anderer Junge aus West-London, John Major, der spätere Premierminister der Konservativen. Einmal, 1955, wurde der FC englischer Meister. Zehn Jahre später stand er kurz davor, das Kunststück zu wiederholen, doch dann schlichen sich eines Nachts acht Chelsea-Spieler aus ihrem Hotel, um einen draufzumachen. Ihr Manager Tommy Docherty, von einem Hotelangestellten informiert, kaufte für die acht Zugtickets nach London und schickte sie heim. Am Nachmittag verlor der FC Chelsea gegen Burnley 2:6. Seither kam er nie wieder auf Tuchfühlung mit dem Meistertitel, bis zu diesem Frühjahr.
Anfang der siebziger Jahre hatte Chelsea ein gutes Team, das den FA-Cup gewann und den Europacup der Pokalsieger. Es war die Zeit, als die Kingu2019s Road in Chelsea sich zur international beachteten Modemeile mauserte u2013 Malcolm McLaren und Vivienne Westwood hatten dort eine Boutique namens Sex u2013 und das Stadtviertel schick wurde. Einmal liess sich sogar Raquel Welch im Stadion blicken. Doch die Chelsea-Stars tranken zu viel und fanden es zu anstrengend, jede Woche zu gewinnen. In Chelsea hatte man das nicht nötig. Als der Klub sich eine neue Tribüne leistete, geriet er mit drei Millionen Pfund in die Kreide, und fortan wuchs der Schuldenberg stetig, bis 1982 ein grössenwahnsinniger Milchfarmer namens Ken Bates den Verein kaufte u2013 für ein Pfund, und mehr war er auch nicht wert.
Chelsea widerspiegelte damals die Hässlichkeit einer armen, heruntergekommenen und rassistischen Stadt. Paul Canoville, der 1981 als erster Farbiger überhaupt zum FC Chelsea stiess, wurde aus der Shed-Kurve, von den Fans des eigenen Klubs, regelmässig mit Bananen beworfen. Trevor Phillips, der farbige Vorsitzende der britischen Staatskommission für die Gleichberechtigung der Rassen, erzählte mir: «Ich bin jetzt seit 15 Jahren Anhänger von Chelsea. Aber es gab eine lange Zeit, in der ich, obwohl ich an der Fulham Road wohnte, nicht hingehen konnte, weil ich der einzige Schwarze in der Shed-Kurve gewesen wäre.» Noch dazu war eine Zeit lang Dart-Werfen das beliebteste Spiel in der Shed. Phillips deutete auf seinen Kopf: «Hier, ich bin das Schwarze!»
Als ich 1994, nach einem Jahr in Boston, nach London zurückkehrte, war die Stadt ein Schock für mich. Müde Menschen in Grau warteten auf überfüllten Bahnsteigen auf U-Bahn-Züge aus den fünfziger Jahren. Kaffee war ein exotisches Getränk, das man fast nirgendwo bekam, wie Götterspeise. Im Freien eine Mahlzeit einzunehmen, war polizeilich verboten, wegen imaginärer Brandgefahr. Das Stadtzentrum war unbewohnt und machte um 11 Uhr nachts dicht.
Und die Fussballvereine waren fürchterlich. Chelsea war zwar wieder in der Premier League, aber sie hatten einen Mittelstürmer namens Paul Furlong, der ein so bescheidener Fussballer war, dass die Chelsea-Fans ihm den Spitznamen «Fuck off Furlong» verpassten. Ich kann mich an ein Tor von ihm erinnern: Der Torwart von Real Saragossa drosch Furlong den Ball genau ins Gesicht, und er tropfte aus 20 Metern ins Netz. Furlong freute sich riesig.
Nostalgische Zeitungen verbandelten Chelsea damals gern mit Londons Glamourwelt, obwohl sie nicht viele prominente Chelsea-Fans nennen konnten ausser dem farblosen John Major und seinem Minister David Mellor. Mellor hatte vor allem durch eine Affäre mit einer spanischen Schauspielerin von sich reden gemacht. Laut News of the World hatte sie gesagt, der (unvorstellbar hässliche) Minister habe im Bett immer darauf bestanden, seine Chelsea-Sachen zu tragen: Trikot und Socken, nur die Hose nicht. Solche Details faszinierten zwar die Nation, mit Glamour hatte das aber nicht viel zu tun.
Alles Spitze
Doch gerade um diese Zeit, Mitte der neunziger Jahre, begann in London alles anders zu werden. Heute ist es die reichste und kosmopolitischste Stadt Europas, und seine Fussballvereine stehen auf einmal an der Spitze der englischen Liga, dominieren den FA Cup und die Champions League. Londons grosses Glück war, dass sein grosser und traditionsreicher Wirtschaftszweig, das weltweite Finanzgeschäft, ab Mitte der neunziger Jahre durchstartete. Die Finanzmärkte hatten Hochkonjunktur, und das globale Geschehen konzentrierte sich zunehmend auf drei Finanzplätze: Tokio, New York und London. In dem Mass, wie sich die Technologie des Börsengeschäfts verbesserte, schlossen internationale Finanzhäuser ihre Niederlassungen in Frankfurt und Mailand und verlegten ihre Leute nach London. Nirgendwo anders finde man so qualifizierte Mitarbeiter, sagten die Banken.
Kosmopoliten fühlten sich in einer Stadt zu Hause, in der 300 Sprachen gesprochen wurden und wo 95 Prozent aller befragten Einwohner der Aussage zustimmten, es sei «eine gute Sache, dass Grossbritannien eine multikulturelle Gesellschaft ist». London nimmt heute 200000 Einwanderer pro Jahr auf, ein Drittel seiner Einwohner ist ausserhalb des Vereinigten Königreichs geboren.
London ist zu einer Weltstadt geworden, abgenabelt vom Rest Grossbritanniens. «Das Land ist gespalten», diagnostiziert Daniel Dorling, Geografieprofessor an der Universität von Sheffield. Ausserhalb Londons registriert er «Grossstadtinseln, die offenbar langsam absinken, demografisch, sozial und wirtschaftlich. Das Vereinigte Königreich erscheint zunehmend wie ein Stadtstaat.»
Saufen ist out, shoppen ist in
Londons neuer Wohlstand fand bald seinen Weg durch die Fulham Road zur Stamford Bridge. In den frühen neunziger Jahren übernahm einer aus der wachsenden Schar der Londoner Multimillionäre, der Versicherungsmogul Matthew Harding, die Finanzierung des FC Chelsea. 1996 starb er bei einem Hubschrauberabsturz, doch um diese Zeit befand sich der Londoner Aktienmarkt in einer solchen Hausse, dass sogar Fussballklubs nach oben geschwemmt wurden. Chelsea machte den Boom im Gewand einer Firma namens «Chelsea Village» mit. Fussball war nur einer ihrer Geschäftsbereiche, ansonsten baute die Firma an der Stamford Bridge überteuerte Hotels und Restaurants. Der Klub rückte von seiner Tradition ab, schlechte oder versoffene britische Kicker zu kaufen, und begann fähige Ausländer unter Vertrag zu nehmen. Der Holländer Ruud Gullit kam 1995. Einen wie ihn hatte man an der Stamford Bridge noch nie erlebt. Gullit hatte allein mehr Pokale gewonnen als der FC Chelsea. Ausserdem trank er nicht.
1996 übernahm Gullit das Management des Klubs. Er holte Spieler wie Frank Lebu0153uf, Gianfranco Zola und den gebürtigen Schweizer Roberto Di Matteo. Paul Furlong musste dem italienischen Nationalstürmer Gianluca Vialli weichen. Die Neuen fanden sich schnell zurecht. Di Matteo beeindruckte nach seiner ersten Partie für Chelsea in Southampton einen zwölfjährigen Autogrammjäger mit einer Widmung: «Fuck off», schrieb er auf die Mütze des Jungen. Vielleicht waren es die einzigen englischen Wörter, die er kannte. Der Junge, zufällig der Bruder eines Southamptoner Spielers, erzählte der Presse später: «Ich sah, wie sich ein seltsames Lächeln auf Di Matteos Gesicht ausbreitete, als er mir den Kuli zurückgab.»