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Der 'Traum' vom Fussballprofi

Verfasst: 27.03.2005, 15:30
von ZS1893
Wenn sie zehn Jahre alt sind, ist ihre Begabung nicht mehr zu übersehen. Ihre Mütter stehen kreischend an der Aussenlinie. Professionelle Talentsucher erteilen Ratschläge. Mit fünfzehn sind sie auf einer Fussballschule. Sie überstehen ein Auswahlverfahren nach dem anderen. Sie sehen andere Jungen mit gesenkten Kopf davonschleichen. Sie spüren, dass sie zum Ruhm bestimmt sind, und so gehen sie früh zu Bett und träumen vom grünen Rasen des San Siro oder des Olimpico. Am Telefon spornen Mama und Papa sie an. Auch die wenigen Freunde, die ihnen von früher noch geblieben sind, spornen sie an. Sie trinken nicht und sie rauchen nicht. Ihre Ernährung ist streng geregelt. Das Training ist hart. Wenn sie siebzehn oder achtzehn sind, spielen sie in der Serie C oder sitzen in der Serie B auf der Ersatzbank. Ernste Männer in schweren Mänteln spekulieren auf ihre Zukunft. Sie werden gekauft und verkauft. Eine Milliarde Lire in diesem Jahr, fünf Milliarden im nächsten. Sie werden kreuz und quer durch das ganze Land gejagt, von Treviso nach Taranto, von Palermo nach Turin. Inzwischen kennen sie ausserhalb des Fussballgeschäfts keinen Menschen mehr. Sie wissen gar nicht, was sie zu jemanden sagen sollen, der weder Spieler noch Trainer noch Journalist ist. Oder wenigstens ein Fan. Gibt es überhaupt Menschen, die keine Fussballfans sind? Sie sind stolz auf das, was sie erreicht haben, und haben zugleich Angst, sich zu blamieren. Sie haben nichts anderes gelernt, sie haben nicht studiert. Für ein Privatleben hatten sie nie Zeit. Und da sie permanent unter Aufsicht gestanden haben, konnten sie auch keinen Charakter entwickeln. Vor jedem Spiel packt ihnen jemand die Tasche: drei Trikots mit ihrem Namen und ihrer Nummer auf dem Rücken, drei Unterhemden, drei Paar Shorts, drei Paar Socken, drei Paar Schuhe, der Trainingsanzug in den Clubfarben und der weisse Ersatzdress für alle Fälle. Jemand anders bucht für sie die Reisen, jemand bereitet für sie die Mahlzeiten zu, jemand plant für sie den Tagesablauf. Fünf Tage der Woche trainieren sie, an einem Tag spielen sie - wenn sie Glück haben -, und einen Tag haben sie frei und können in der Zeitung nachlesen , wie sie gespielt haben. Vor und nach jeder Trainingseinheit werden sie gewogen. Sie bekommen ihr Idealgewicht mitgeteilt und müssen es unbedingt halten. Sie dürfen vor dem Spiel keinen Sex haben. Sie werden mit einer Geldbusse belegt, wenn sie zu spät zum Training kommen. Sie werden mit einer Geldbusse belegt, wenn ihr Handy klingelt, während der Trainer spricht. Sie werden mit einer Geldbusse belegt, wenn sie bei Fahrten mit der Mannschaft nicht die Club-Uniform tragen. Sie brennen darauf, für das nächste Spiel aufgestellt zu werden u2013 was bleibt ihnen also übrig, als allem zuzustimmen, was der Trainer sagt? Was bleibt ihnen übrig, als ihm jeden Wunsch zu erfüllen? Werden sie aufgestellt, sind sie stolz und erleichtert; werden sie übergangen, dann leiden sie Höllenqualen. Sie haben panische Angst vor Verletzungen und entwickeln sich deshalb zu hypersensiblen Hypochondern. Es zwickt sie in der Wade, es kribbelt sie im Handgelenk, der Hals ist geschwollen. Was ist es? Der Mannschaftsarzt untersucht sie, der Masseur macht sie wieder fit. International anerkannte Chirurgen führen die einfachsten orthopädischen Routineoperationen durch. Sie sehnen sich danach, bewundert zu werden, und haben Angst, dass die Menschen nur ihre Nähe suchen, weil sie so berühmt sind. Sie sitzen in anonymen Hotelzimmern und ziehen sich Pornos rein. Wenn sie gewinnen, werden sie verehrt. Dann stehen sie mit erhobenen Armen unter der Kurve und baden mit strahlenden Gesichtern im Glanz des Ruhmes. Ihre abgelegten Kleider werden zu Kultobjekten. Wenn sie durch eine Menschenmenge gehen, wollen alles sie anfassen. Aber wenn sie verlieren, werden sie angespuckt. Die Pfiffe sind ohrenbetäubend. Mit gesenktem Kopf eilen sie auf den Tunnel zu. Sie sind einsam und heiraten jung. Eine alte Freundin vielleicht. Oder ein junges Model, das genau so verloren und eitel ist wie sie selbst. Oder die klaustrophobische Atmosphäre ihrer autistischen Welt lässt sie bei ihren Teamkameraden nach sexueller Befriedigung suchen. Es ist eine Männerwelt, und die Männer sind jung und attraktiv. Wenn sie mitten in der Nacht mit Kopfschmerzen aufwachen, müssen sie den Mannschaftsarzt anrufen, bevor sie irgendetwas einnehmen können. Schliesslich gibt es Dopingkontrollen. Sie können nicht einfach Tropfen nehmen, wenn sie eine verstopfte Nase haben. Sie können nicht einfach Wick VapoRub inhalieren. Sie dürfen an nichts anderes denken als an das Spiel. Das nächste Spiel ist entscheidend. In der Nacht vor dem Spiel sind sie zu angespannt, um zu schlafen zu können. In der Nacht nach dem Spiel sind sie zu erregt, zu wütend. Es brennt am ganzen Körper. Die Muskeln sind angeschwollen, die Gelenke sind steif. Sie können nicht schlafen. Voller Erstaunen lesen sie von Spielern in anderen Ländern, die hemmungslos trinken und rauchen und Restaurants und Flugzeuge demolieren. Wie ist das möglich? Was würde die Gazzetta dazu sagen? Italien ist ein katholisches Land. Sie lesen, dass englische Spieler sich in der Halbzeitpause über die Ergebnisse der Pferderennen informieren. Sie glauben es einfach nicht. Das kann nicht sein. Wie die Soldaten des alten Sparta sind sie nur auf dem Schlachtfeld ganz sie selbst. Nur wenn sie durch den Spielertunnel in das grosse grüne Stadion einlaufen, können sie ihren ganzen aufgestauten Emotionen freien Lauf lassen. Nur hier können sie ihr Genie unter Beweis stellen. Nur vor einer riesigen Zuschauermenge dürfen sie sich endlich nach Herzenslust danebenbenehmen. Sie reissen ihren Gegenspieler am Trikot. Sie rauschen ihm in die Beine, bevor er sich in Schussposition begeben kann. Die Menge applaudiert. Schmeiss ihn um! Sie tun ständig so, als seien sie selbst gefoult worden, Sie fallen, obwohl sie gar nicht berührt worden sind. Sie leugnen die offensichtlichsten Wahrheiten, sie beharren darauf, dass sie den Ball nicht berührt hätten; sie behaupten, der Ball sei nicht aus gewesen, obwohl jeder gesehen hat, dass er aus war. Wenn sie in Führung liegen, werfen sie den Ball weit weg, um Zeit zu schinden. Oder sie schnappen ihn sich und weigern sich, in herauszurücken. Wenn sie gefoult werden, winden sie sich vor Schmerzen, auch wenn ihnen gar nichts wehtut. Wenn sie ausgewechselt werden, schleichen sie sich so langsam wie möglich über den Rasen, den Pfiffen der gegnerischen Fans zum Trotz. Sie sind zugleich kindisch und reif, weinerlich und tapfer. Wenn sie ein Tor schiessen, verlieren sie komplett die Beherrschung. Dann reissen sie sich das Trikot vom Leib, dann drehen sie vollends durch. Wenn der Gegner ein Tor schiesst, brechen sie in tiefster Verzweiflung auf dem Rasen zusammen. Sie protestieren heftig. Sie treten gegen den Torpfosten. Nach dem Spiel rufen sie ihre Mütter an. Wenn sie vom Fernsehen interviewt werden, sind sie vorsichtig und konformistisch: Wir haben unser Bestes gegeben; Glückwunsch an den Gegner; wir müssen bescheiden bleiben. Am nächsten Tag schlagen sie in allen Zeitung ihre Noten nach. Sie informieren sich über ihren hypothetischen Wert auf dem imaginären Transfermarkt. Werde ich nächstes Jahr noch hier sein? Werde ich spielen oder werde ich auf der Bank sitzen? Sie sind enorm privilegiert und doch hoffnungslos eingeschränkt. Sie haben kein normales Leben. Vor allem kassieren sie Traumgehälter. [...]

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Aus 'Eine Saison mit Verona' von Tim Parks (Empfehlenswert!)

Verfasst: 27.03.2005, 23:16
von Shurrican
ZS1893 hat geschrieben:... Voller Erstaunen lesen sie von Spielern in anderen Ländern, die hemmungslos trinken und rauchen und Restaurants und Flugzeuge demolieren. Wie ist das möglich? ...
.... Sie tun ständig so, als seien sie selbst gefoult worden, Sie fallen, obwohl sie gar nicht berührt worden sind. Sie leugnen die offensichtlichsten Wahrheiten, sie beharren darauf, dass sie den Ball nicht berührt hätten ...
die insulaner haben ihre macken im gegensatz zu de tschingge neben dem platz.. ;)

interressanter text, man könnte ein paar spieler aufzählen, auf denen das zutreffen könnte...

Verfasst: 27.03.2005, 23:29
von gruusigeSiech
Genau deshalb finde ich den Italo-Fussball den Schlimmsten der Welt.