Seite 1 von 1

Der Betonkessel und seine Aura

Verfasst: 21.11.2006, 00:20
von bulldog™
Der Betonkessel und seine Aura
quelle:BaZ.ch

ARSENAL LONDON IST IM SÜNDHAFT TEUREN EMIRATES STADION NOCH NICHT HEIMISCH GEWORDEN

raphael honigstein, London

Im neuen Stadion sucht Arsenal London noch seine Form - heute wieder in der Champions League gegen den Hamburger SV.

Am 6. Mai 1939 fiel ein Gästespieler im Highbury mitten in der Partie tot um. Star-Stürmer John Doyce war vergiftet worden. Ein rätselhafter Fall, aber Inspektor Slade vom Scotland Yard hatte ihn rasch aufgeklärt. «The Arsenal Stadium Mystery» heisst der Schwarzweisskrimi, und in Nordlondon fühlen sich derzeit nicht wenige an den Klassiker erinnert. Es geht zwar um ein weniger schweres Delikt, und noch dazu sind die Täter keineswegs unbekannt, aber das Mysterium ist kaum kleiner: Wieso können gegnerische Mannschaften den «Gunners» im neuen Emirates Stadion Woche für Woche die Punkte stehlen?
Jens Lehmann, der beim 1:1 gegen Newcastle United am Samstag anstatt des zunächst geschonten Thierry Henry die Kapitänsbinde trug, hat «eine Art Muster» ausgemacht, das nicht schön aussieht. Zum vierten Mal konnte Arsenal nach einer Führung der Gäste nur noch ausgleichen; «die Geschichte wiederholt sich ein bisschen», klagt Trainer Arsène Wenger. Auch in der Champions League reichte es gegen ZSKA Moskau kürzlich nur zu einem 0:0.

Das Heimproblem.
Vor einem Jahr lag Arsenal in der Liga zur selben Zeit ebenfalls abgeschlagen hinter Chelsea auf dem vierten Platz. Doch damals war die Auswärtsform das Problem, alle sechs Heimspiele im alten Highbury hingegen wurden gewonnen. Es liegt also nahe, die Gründe im Emirates, dem 600 Millionen Euro teuren Betonkessel, zu suchen. Die Wahrheit scheint insbesondere auf dem Platz zu liegen. Laut Wenger ist er etwas langsamer und dem typischen Kurzpassspiel seines Teams damit weniger dienlich, ausserdem ist er einen Meter weiter (68 Meter) und fünf länger (105) als die Spielfläche im engen Highbury. Das müsste den Technikern eigentlich helfen, doch das weite Grün erschwert die räumliche Orientierung.

Krabbenbrötchen-brigade.
60000 Zuschauer fasst das Emirates, ein gutes Drittel mehr als Highbury. Auf die Stimmung hat sich das allerdings negativ ausgewirkt, weil die zusätzlichen Plätze zum Grossteil von Logengästen belegt werden. Diese Klientel - gerne als «Krabbenbrötchen-Brigade» verspottet - kennt die Lieder nicht und wird schnell unruhig. Dazu lichten sich schon mehrere Minuten vor Schluss die Reihen, weil jeder so schnell wie möglich in die hoffnungslos überfüllte U-Bahn eilt. Es gibt keine öffentlichen Parkplätze.

Henry hat sich kürzlich bitter über diese für England ungewöhnlichen Verhältnisse beschwert: «Es hilft nicht, wenn die Zuschauer nach einer Stunde das Ächzen anfangen, sie müssen Geduld mit uns haben.» Geduld ist in der Tat das Schlüsselwort. Der Umzug ist letztlich von sekundärer Bedeutung, denn Arsenal befindet sich wie in der Vorsaison im Umbruch.
Risiken und Formschwankungen sind zwangsläufige Begleiterscheinungen - besonders, wenn man wie Wenger einem puristischen Ideal nachjagt und sich weigert, «hässlich» zu gewinnen. Spielen können sie natürlich, die Hlebs, Rosickys, Fabregasu2019 und Van Persies; hinter ihnen werden grosse Talente wie Theo Walcott oder der Brasilianer Denilson ausgebildet. Fussball ist für Wenger eben nicht nur Tagesgeschäft.
Dass mit Verteidiger Justin Hoyte und Walcott nur zwei Engländer zu (sporadischen) Einsätzen kommen, ist dabei schon lange kein Thema mehr. «Ich interessiere mich nicht für die Nationalität eines Spielers, nur für seine Qualität», sagt Wenger. Die Fans tolerieren so viel Kosmopolitismus, weil der ehemalige Mittelklasseclub erst durch Wenger und den anderen Ausländern zum Spitzenclub wurde.
Was fehlt, sind ein paar erfahrene Spieler, die der Truppe den Weg weisen. Die jungen Kicker laufen mitunter Gefahr, sich vor lauter Spielfreude mit dem Ball am Tor vorbei und aus dem Stadion zu dribbeln; allein Henry weiss immer, wo das Tor steht. Der Franzose wirkte zuletzt jedoch etwas erschöpft und misslaunig, die Motivation fällt ihm nach den beiden verlorenen Endspielen im Sommer (mit Arsenal und Frankreich) schwer.

Hamburgs Ruf.
Die Hamburger haben in London ähnliche Probleme mit dem Antrieb. Der Trip an die Themse wird kaum Zerstreuung vom Abstiegskampf bieten können; mehr als ein Achtungserfolg ist nicht zu holen, im schlimmsten Fall wird der Ruf vollends ruiniert. Inspektor Slade dagegen kann heute Abend beruhigtfrei machen: Mord und Totschlag sind nicht zu befürchten. Das Unternehmen Champions League ist für Thomas Dolls Männer ja schon vor dem Anpfiff gestorben.