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Menotti: Die letzte Chance für den Fussball

Verfasst: 09.06.2006, 08:02
von IP-Lotto
«Die letzte Chance für den Fussball»

Der streitbare Fussballphilosoph César Luis Menotti über argentinische Spieler, die «wie Rinder verkauft werden», und darüber, weshalb die WM 2006 «für den Fussball die letzte Chance ist, sich mit den Fans zu versöhnen».


Señor Menotti, Sie sind jetzt 67 u2013 besitzen wunderbare Landsitze in der Pampa, und trotzdem sind sie jeden Tag in ihrem Büro, mitten in Buenos Aires, anzutreffen.

César Luis Menotti: Ich bin mit einem Ball geboren. Fussball ist mein Leben. Ich habe gerade ein Buch geschrieben und arbeite für eine mexikanische Fernsehstation während der WM. Ich bin dauernd unterwegs, ich kann nicht Rinder züchten. Ich will Fussball leben, jeden Tag.

Im Oktober waren Sie auf Kuba. Wie kam es dazu?

Kubas Fussballverband hat mich eingeladen. Ich habe dort Vorträge gehalten für Trainer und Konditionstrainer, für Funktionäre und Behörden.

In Ihren Essays schreiben Sie über linken und rechten Fussball. Welcher Fussball wird auf Kuba gespielt?

Der kubanische Fussball hat grosse Fortschritte gemacht. Bei der letzten WM-Qualifikation hat Kuba gegen Costa Rica zweimal unentschieden gespielt und ist nur wegen der Auswärtstore-Regel ausgeschieden. Sonst wäre Kuba vielleicht der erste Gegner Deutschlands.

Was ist für Sie «linker Fussball»?

Linker Fussball ist generös und nur dem Publikum verpflichtet. Er ist aufrichtig, stellt nicht das Resultat über alles.

Schön spielen und verlieren?

Nein. Das Publikum will ehrlichen Fussball sehen. Es merkt, ob die Mannschaft das Spiel gestalten und gewinnen will, ob die Spieler Spass haben oder ob der Trainer ängstlichen, destruktiven Fussball spielen lässt.

Am Schluss zählt das Ergebnis.

Nicht nur. Wenn Sie mit halbherzigem, defensivem Spiel ein negatives Resultat erzielen, dann fühlt sich der Zuschauer betrogen. Wenn die Mannschaft rennt, kämpft, spielt und dennoch verliert, dann wird dies vom Zuschauer trotzdem honoriert. Aber die Mannschaft darf ihre Fans nicht betrügen. Niemals.

Wie vermitteln Sie das einem Profi, der übermorgen beim Gegner spielt, weil er dort ein paar Millionen mehr verdient?

Geld hat damit nichts zu tun. Placido Domingo verdient viel Geld, aber er wird niemals Schlager singen. Al Pacino werden Sie niemals in einer belanglosen Rolle sehen. Es ist nicht das Geld, das den Fussball kaputtmacht. Mir ist es egal, wie viel ein Bild kostet, solange mich der Künstler nicht mit einer zweitklassigen Arbeit betrügt. Solange der Spieler Einsatz, Spektakel und Mut zeigt, wird sich keiner daran stören, dass er Millionen verdient.

Wer spielt mutigen Fussball?

Barcelona, die brasilianische Nationalmannschaft, Manchester United hat bis vor ein paar Jahren begeisternden Fussball gespielt, auch Arsenal jetzt wieder. Alle spielen mutig und zugleich erfolgreich.

Kritiker werfen Ihnen vor, Ihre Mannschaften hätten mutig gespielt, aber als Klubtrainer seien sie erfolglos geblieben.

Ich habe viel gewonnen, mehr, als die jeweiligen Mannschaften verdient hätten. Ich hatte nie eine Meistermannschaft, abgesehen von Barcelona, Anfang der 80er-Jahre. Da haben wir den Ligapokal gewonnen, die Copa del Rey und wurden Meisterschaftszweiter. Dabei haben mir in 18 Spielen Maradona und in 8 oder 9 Spielen Schuster gefehlt. Später bei Atlético Madrid hat der Präsident einmal von mir verlangt, einen Spieler zu bestrafen, weil dieser einen Elfmeter verschossen hatte. Wir waren Dritter u2013 was soll man dazu sagen?

Trainer werden auch an Titeln gemessen.

Eben genau das ist falsch. Viele glauben, nur wer Erster wird, ist erfolgreich. Fussball ist nicht so einfach. Als Ajax in den 70er-Jahren alles gewann mit seinem revolutionären Stil, wollten auf einmal alle Trainer spielen wie Ajax, doch das konnten sie nicht, weil sie die Spieler dazu nicht hatten. Nicht einmal die Holländer selber konnten es und gewannen nichts. Weder 1974 noch 1978. Der Trainer ist Dirigent des Orchesters. Mit mittelmässigen Musikern werden Sie nie ein grosses Orchester haben. Aber Sie können mit viel Übung, mit Konzentration und Begeisterung ein passables Konzert vortragen.

Argentinien bringt Jahr für Jahr neue Talente hervor, das Nationalteam gehört zu den Favoriten des WM-Turniers, doch zu Hause steckt der Fussball in einer tiefen Krise. Wie erklären Sie sich das?

Die Vereine werden nicht kontrolliert. Es geht ausschliesslich ums Geschäft. Jeden Tag findet irgendeine Partie statt. Spieler werden wie Rinder verkauft. Die Fans gehen nur noch zu den Klassikern. Vereine gehen in Konkurs, obwohl wir in den letzten zehn Jahren Spieler im Wert von 200 Millionen Dollar nach Europa verkauft haben. Der argentinische Fussball ist korrupt, nur dem Talent der Spieler, die sich schon früh gegen tausend andere Talente durchsetzen müssen, ist es zu verdanken, dass der argentinische Fussball nicht längst tot ist.

Teilen Sie die Einschätzung, dass Brasilien im Moment zwei Tore besser ist als alle anderen Nationen, auch als Argentinien?

Nein, das glaube ich nicht. Der Unterschied ist geringer. Wahr ist, dass viele brasilianische Spieler in ihren Vereinen Leistungsträger sind. Unserem Nationalteam dagegen fehlen im Moment Spieler wie Kaká, Cafú, Roberto Carlos, Ronaldo, Ronaldinho, Robinho. Argentinien hat gute Spieler, aber keine Topstars.

Was erwarten Sie von der WM in Deutschland?

Viel, sehr viel. Die WM ist eigentlich die letzte Chance, die der Weltfussball hat, um das Publikum zurückzugewinnen.

Wie meinen Sie das?

Die Mailänder Scala oder die Oper von Paris sind nicht schöner als andere Opernhäuser. Aber sie provozieren ganz andere Gefühle bei den Sängern und beim Publikum. Ein Fussballspiel in München, Barcelona oder Manchester ist etwas ganz anderes als ein Spiel in Korea oder Japan. Es fehlen dort die Ambiance, die Historie. Manchester, Barcelona, München u2013 das sind ganz andere Bühnen. Das merkt der Spieler. Deutschland bietet alle Voraussetzungen dafür, dass die Versöhnung mit den Fans gelingt. Ein begeisterungsfähiges, fachkundiges Publikum. Anders als in Asien wird die WM diesmal nicht nur in den Stadien und im Fernsehen stattfinden. Sie ist Thema in den Familien, am Kiosk, im Büro, in der Kneipe und in der Strassenbahn. Es wir eine riesige Euphorie geben in Deutschland.

Wie hoch schätzen Sie den Heimvorteil ein?

Wenn sich das Publikum mit der Mannschaft identifiziert, wenn es sie trägt, dann ist es ein Vorteil, zu Hause zu spielen. Doch das Heimrecht kann für grosse Mannschaften erdrückend werden. Die Spanier sind bei der Heim-WM 1982 gescheitert, die Italiener 1990 auch. Selbst Brasilien hat das Endspiel 1950 als haushoher Favorit verloren. Wenn es der Mannschaft nicht läuft, wenn es einen Bruch gibt zwischen Publikum und Mannschaft, dann ist der Gastgeber im Nachteil. Wir hatten 1978 eine tolle Mannschaft. Techniker, Talente, Kämpfer, und wir hatten das nötige Glück. Doch das kommt nicht von alleine. Man muss dafür arbeiten. Auch Deutschland kann zu Hause Weltmeister werden. Die Deutschen hatten immer gute Nationalmannschaften. Leider wurde deutscher Fussball oft auf Kraft, Ordnung und Glück reduziert. Ich könnte Ihnen 50 Spieler aufzählen, von Beckenbauer, Overath, Breitner, Stielike, Schuster über Littbarski, Hässler bis zu Ballack, die von ihren technischen Fähigkeiten den Brasilianern oder Argentiniern ebenbürtig sind. Vielleicht fehlen der aktuellen deutschen Mannschaft aber zwei, drei solche Spieler, die den Unterschied machen.

Kennen Sie die Mannschaft der Schweizer?

Die Schweiz hat eine talentierte Mannschaft. Im Moment sichten wir mit den Redaktoren des mexikanischen Fernsehens Material aller WM-Teilnehmer. Von der Schweiz weiss ich, dass sie gegen Frankreich zweimal sehr gut gespielt hat. Wer die Türkei schlägt, der kann auch an einer WM in die nächste Runde kommen.

Sie haben in der letzten Stunde eine Zigarette geraucht: Denken Sie ans Aufhören?

Ja, es ist an der Zeit. Bis Sie 40 sind, können Sie problemlos 20 Minuten Fussball spielen. Dann wird die Luft knapp. Die 20-Jährigen rennen und rennen. Weil ich inzwischen sogar beim Tennis ausser Atem komme, habe ich beschlossen, etwas zu ändern.

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César Luis Menotti. Geboren am 5. November 1938 in Rosario.

Karriere als Spieler:
1960u20131963 Rosario Central,
1964 Racing Club,
1965u20131966 Boca Juniors,
1967 New York Generals (USA),
1968 Santos (Bra),
1969 Juventus (Bra).

Karriere als Trainer:
Nationalteam Argentinien: 1974u20131982 (Weltmeister 1978).
Nationalteam Mexiko: 1991u20131992.

Klubtrainer:
Huracán (1972u20131974),
Barcelona (Sp/1982u20131984),
Boca Juniors (1986u2013 1987),
Atletico Madrid (Sp/1987u20131988),
River Plate (1988u20131989),
Peñarol (Uru/1990u2013 1991),
Boca Juniors (1993u20131994),
Independiente (1996u20131997),
Sampdoria (It/1997u2013 1998),
Independiente (1998u20131999).
Rosario Central (2002).

"Der Bund" http://www.espace.ch/artikel_221936.html

Verfasst: 09.06.2006, 10:10
von Captain Sky
Menotti ist ein Schwäzer: Wer für eine Militärjunta einen WM-Titel gewinnt, sollte nicht über ehrlichen Fussball etc. reden...

Verfasst: 09.06.2006, 10:45
von IP-Lotto
Captain Sky hat geschrieben:Menotti ist ein Schwäzer: Wer für eine Militärjunta einen WM-Titel gewinnt, sollte nicht über ehrlichen Fussball etc. reden...
Hä? Jedesmal wenn ich etwas über Menotti gelesen habe, wurde erwähnt, dass er ganz offen ein Gegner der Militärjunta war und sogar Aktivismus dagegen betrieben hat.

Falls du aber der Ansicht bist, dass die Konsequenz soweit gehen sollte, dass man in einer solchen Situation das Nati-Traineramt gar nicht erst übernehmen darf, ist das natürlich dein Recht; nur teile ich diese Meinung nicht.

Verfasst: 09.06.2006, 11:09
von Captain Sky
[quote="IP-Lotto"]Falls du aber der Ansicht bist, dass die Konsequenz soweit gehen sollte, dass man in einer solchen Situation das Nati-Traineramt gar nicht erst übernehmen darf, ist das natürlich dein Recht]
Jup, dieser Meinung bin ich.