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DIE QUALIFIKATION ZUR FUSSBALL-WM 2006 Schlechte Verlierer und glückliche Sieger
Fußtritte fürs Fairplay
Nach dem Skandalspiel in Istanbul droht Fifa-Chef Blatter harte Strafen gegen die Türkei an
Von Thomas Seibert, Istanbul, und Christoph Kieslich, Basel
Benjamin Huggel war für die türkischen Medien am Tag danach der Schuldige. u201EDer hässliche Schweizeru201C, titelte eine Zeitung, vom u201ETerror der Nummer 14u201C war die Rede. Überall präsente Fernsehbilder und Fotos zeigten, wie Huggel nach der erfolgreichen WM-Qualifikation seines Teams auf dem Weg in die Kabine den türkischen Kotrainer Mehmet Özdilek in die Kniekehle trat und dann mit dem türkischen Abwehrspieler Alpay Özalan aneinander geriet. Dass Özalan vorher einen Schweizer Spieler getreten hatte und dass die Schweizer Spieler von türkischen Fans mit verschiedenen Gegenständen beworfen wurden, blieb größtenteils ebenso unkommentiert wie die Tatsache, dass der Schweizer Ersatzspieler Stephane Grichting niedergeschlagen wurde und ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die türkischen Spieler hätten sich durch Huggels Provokation dazu hinreißen lassen, selbst Schläge auszuteilen, lautete die türkische Sicht der Dinge.
Die Schweizer Sicht der Dinge war eine völlig andere. u201EEs ist schlimm, wenn man von der Bank aufsteht, und Angst haben mussu201C, schilderte der Schweizer Nationaltrainer Jakob Kuhn die Momente nach dem Abpfiff, ehe die Schweizer im Spurt dem Wurfhagel von den Tribünen zu entkommen versuchten. In den Katakomben hätten sich u201Eunfassbareu201C Szenen abgespielt, sagte Raphael Wickey. u201ETürkische Spieler und Ordnungskräfte haben auf uns eingeprügelt. Ich habe Schläge gegen den Kopf und in den Rücken bekommenu201C, schilderte der Profi vom Hamburger SV die Vorgänge. Er sei jedoch dank der Hilfe der beiden türkischen Bundesliga-Profis Halil (Kaiserslautern) und Hamit Altintop (Schalke 04) noch glimpflich davon gekommen.
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Die Schweizer als Täter, die Türken als Opfer u2013 nach dem Ende ihrer WM-Hoffnungen befinden sich Teile der Fußballwelt und der Öffentlichkeit in der Türkei in einem Zustand der Realitätsverneinung. Besonders deutlich ist das bei Nationaltrainer Fatih Terim zu sehen, dessen Team trotz eines 4:2-Sieges ausschied, weil es das Hinspiel 0:2 verloren hatte. Trotz der Schwächen seiner Mannschaft am letzten Wochenende in Bern und der Fehler der türkischen Abwehr im Rückspiel gab Terim den Schiedsrichtern die Schuld am WM-Aus. In beiden Begegnungen hätten die Schweizer mit zwölf Mann gespielt, schimpfte Terim.
Besonnene Stimmen riefen die Türken am Donnerstag dazu auf, nicht die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. In beiden Spielen hätten die Schweizer mehr unter Schiedsrichter-Entscheidungen zu leiden gehabt als die Türken, kommentierte Erman Toroglu in der Zeitung u201EHürriyetu201C. Die Türkei solle nun nicht woanders Sündenböcke suchen. u201ELassen Sie uns ein wenig in den Spiegel schauenu201C, schrieb Toroglu. Dieser Appell verhallte weitgehend ungehört. In türkischen Internet-Foren war sogar von einer christlichen Verschwörung gegen die moslemische Türkei die Rede. Schließlich kamen die Schiedsrichter der beiden Spiele aus der Slowakei und aus Belgien.
Während Terim und die Fans jegliche Schuld von sich wiesen, ging der Weltverband Fifa der Frage nach, wer für die Ausschreitungen verantwortlich war. Die Bilder von den Faustschlägen und Fußtritten auf dem Spielfeld und im Kabinengang haben den Fifa-Präsidenten erbost. Josef Blatter zürnte: u201EDas macht mich rasend.u201C Er kündigte u201Eumfassende Untersuchungenu201C und ein hartes Durchgreifen des Weltverbandes an: u201EEs darf nicht sein, dass sich die Spieler wie Diebe vom Feld stehlen müssen. Das Fairplay wurde in Istanbul mit Füßen getreten.u201C
Noch vor der Auslosung der WM-Endrunde am 9. Dezember in Leipzig soll die Diszplinarkommission der Fifa über Sanktionen entscheiden, und Blatter wollte selbst einen Ausschluss der Türken für die WM-Qualifikation 2010 nicht ausschließen. Was ihm allerdings vom türkischen Verband prompt die Kritik einer u201Egefährlichen, falschen und einseitigenu201C Stellungnahme eintrug. Schließlich ist Blatter Schweizer. Doch auch Schweizer Spieler, die an dem Handgemenge im Kabinengang des Sükrü-Saracoglu-Stadions beteiligt waren, könnten zur Rechenschaft gezogen werden.
Der triumphale Empfang auf dem Flughafen Zürich-Kloten gestern Nachmittag wird die Schweizer Auswahl für die Tumulte von Istanbul entschädigt haben. Weit über tausend Fans feierten die Mannschaft enthusiastisch und blicken hoffnungsvoll Richtung Deutschland. Das Boulevardblatt u201EBlicku201C formulierte: u201EWer dieser Hölle trotzt, ist reif für WM-Großtaten.u201C Die Türken hingegen müssen auf Großtaten nun eine Weile warten. Das WM-Aus hatte gestern erste Konsequenzen: Stürmerstar Hakan Sükür erklärte seinen Rücktritt aus dem Nationalteam.
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Ganz draußen
Michael Rosentritt freut sich auf die Weltmeisterschaft ohne die Türkei
Am vergangenen Wochenende wurde dem in Deutschland lebenden türkischen Schwergewichtsboxer Sinan Samil Sam im Boxring der Kiefer gebrochen. Hätte der u201EBulle vom Bosporusu201C, wie sich der 31-Jährige nennt, seinen kasachischen Herausforderer geschlagen, hätte er um den WM-Titel kämpfen dürfen. 3,3 Millionen Zuschauer hatten hierzulande vor dem Fernseher mit dem Türken mitgefiebert, der sich jetzt den internationalen Regeln folgend hinten anstellen und sich eine neue Chance erarbeiten muss.
Ähnlich viele deutsche TV-Zuschauer haben vier Tage später die u201EHölle vom Bosporusu201C, oder das, was sich rund um das Fußballspiel zwischen der Türkei und der Schweiz abspielte, gesehen. Nach den hässlichen Szenen kann niemand trauern, dass die Schweiz statt der Türkei zur WM kommt. Das Verhalten der Gastgeber in Istanbul war unzivilisatorisch. Temperament und südländische Lebensfreude haben nichts mit Verschwörungstheorien, mit subjektiven Nationalismus und vor allem nichts mit Gewalt zu tun.
Der türkische Sport besitzt in Deutschland viele Sympathien. Nun aber hat der Fußballverband (nicht nur die Fans) die internationalen Regeln schwer verletzt und muss hart bestraft werden. Der türkische Fußball hat sich ganz hinten anzustellen. Ob und wann eine neue Chance gewährt wird, hat nicht mehr die Türkei allein zu entscheiden.
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