boroboro hat geschrieben:Das ist in den USA aber so, weil die Maske zum politischen Statement gegen Trump wurde. So weit ich gehört habe ist ja NYC immer noch im Lockdown. Da wundert es nicht, dass die Zahlen tief sind.
Lockdown ist etwas uebertrieben: Restaurants und Bars sind offen, man konsumiert einfach eher draussen. Maskenpflicht ist klar, in allen oeffentlich zugaenglichen Innenraeumen. Schulen sind teilweise geschlossen, was gemaess den neusten Daten mindestens bei jungen Kindern wenig Sinn zu machen scheint.
Ich bin derzeit in Boston, was auch ziemlich hart getroffen wurde. Hat zum Glueck niemanden, den ich kenne, erwischt. Aber klar, als wir die hohen Fallzahlen hatte habe ich waehrend einem Monat oder so keinen Laden betreten. Da habe ich mir alles nach Hause liefern lassen und bin nur zum Joggen aus der Wohnung. Getroffen habe ich niemanden und die Strassen waren praktisch leer. Lustig war es bestimmt nicht (man hoerte auch sehr viel mehr Ambulanzen und Helikopter), aber es ist ja schon ein Erstweltproblem, wenn die groesste Last ist, dass man nicht mehr Tapas fressen und Wein saufen kann und sich via Videochat unterhalten muss.
Jetzt wo es kalt wird, scheinen die Leute wieder Innenraeume aufzusuchen. Die Fallzahlen steigen auch hier wieder stark an und ich bereite mich klar auf eine 2. Welle vor. Im September hat sich das in Massachusetts bei 6 pro 100,000 Einwohner eingependelt... heute sind wir auf 16. Zum Hoehepunkt im Mai waren wir bei 40 und das war nicht lustig. Dass einzelne Schweizer Kantone bei 600 pro 100,000 sind, bereitet mir wirklich Sorgen. Ich glaube da meinen einfach zu viele, "hier passiert das nicht." Und dann passiert es natuerlich "hier" auch -- warum auch nicht?
Ich gehe davon aus, dass die Fallzahlen am Montag fuer das Wochenende derart hoch sein werden (20,000+), dass schnell weitere Massnahmen kommen. Obwohl die neuen Massnahmen natuerlich noch gar nicht greiffen konnten. Die Frage ist dann einfach, ob sich die Gesellschaft zusammenreissen kann, oder ob wir Ausschreitungen wie in Italien und Spanien sehen werden. Ich glaube auch die Ausschreitungen in den USA im Sommer hatten mehr mit Covid zu tun als mit BLM: da war die Lage gespannt und das war einfach ein Ventil.
Welche Massnahmen schlägst du vor? Offensichtlich steigen die Zahlen auch mit Maskenpflicht stark an (z.B. Frankreich). Diese Pflicht allein wird sowieso nicht ausreichen.
Wenn ich einziger Bundesrat waere, wuerde ich folgendes machen:
Clubs & Fitnesscenter werden geschlossen. Geld vom Staat um die laufenden Kosten zu decken.
Restaurants & Bars duerfen nur im Freien bedienen, Tische muessen 2 Meter Abstand haben. Noetige Bewilligungen werden erteilt, Nebenstrassen gesperrt um Platz zu schaffen, und wer keinen Platz hat darf etwas auf oeffentlichen Plaetzen aufstellen. Sozusagen "Food Trucks." Ja, etwas anders... aber ich glaube das haette, gerade im Sommer, auch neue Leute angezogen: schon fast ein grosses Fest, aber eben mit Distanz.
Freitag & Samstag Bewilligungen fuer outdoor parties, z.B. am Rhein, die Clubs betreiben duerfen. Auch hier Kapazitaetsregeln/Distanzregeln... aber Platz hat es viel. Die Anwohner muessen halt etwas mehr Laerm in Kauf nehmen.
Restaurants, Bars, outdoor Clubs, und Zuege duerfen nur Gaeste und Passagiere reinlassen, die die Covid App installiert und laufen haben. Als Alternative zur app kann man eine Smartcard rausbringen, auf der nur die Covid App laeuft und die ueber eine Telefonnummer registriert ist. Aber ehrlich: wer gross soziale Kontakte hat, der hat heute auch ein smartphone.
Wer sich bei Warnung der App testen laesst, erhaelt den vollen Lohn waehrend der Quarantaene vom Staat bezahlt. Diese dauert bis man entweder einen negativen Test hat, oder 14 Tage nach positivem Test.
Allgemeine Maskenpflicht im Freien. Punkt. Wer die Maske bei der Wanderung abnehmen will, wird ja kaum einem Polizisten ueber den Weg laufen, der ihn buessen wird. Dazu kommt, dass die Polizei bei den Bussen Diskretion haben kann: eine Warnung tut es meist auch.
Universitaeten und Sek II Stufen in den Fernuntericht. Kleinere Kinder weiterhin im Kindergarten und in der Schule (schon auch um die Eltern zu entlasten).
Dann wuerde ich beim Impfstoff nochmals ueber die Buecher gehen. Mindestens fuer die drei fuehrenden (Pfizer, AstraZeneca, und Moderna) wuerde einen vertraulichen Vertrag abschliessen: Kosten + $10, und somit etwa der doppelte Preis, den die EU bezahlt. Jeweils 4 Millionen Dosen, also totaler Kostenpunkt laecherliche 240 Millionen Franken. Lieferdatum vor Ende Jahr, also Geld gibt es egal ob der Wirkstoff funktioniert oder nicht. Sollten die FDA und EMEA einen Wirkstoff zulassen, diese Zulassung per sofort uebernehmen und den Zivilschutz zur Impfkampagne einsetzen.
Klar ist das einschneident fuer das soziale Leben. Aber man koennte eben viel schaerfere Restriktionen vermeiden. Und wie gesagt, die Stimmung zum Feiern vergeht relativ schnell, wenn die Hospitalisierungsraten und dann die Todesfaelle rasant ansteigen. Also ist die Frage nicht "Einschraenkungen oder Freiheit," sondern "gewisse Einschraenkungen heute oder viel mehr Einschraenkungen spaeter."
Wie du sagst gibt es den Inflektionspunkt erst wenn ein grosser Teil der Bevölkerung infiziert war. Wie willst du ohne Lockdown verhindern, dass sich nicht viele Menschen infizieren, bis die Impfung da ist? Wenn dies sowieso geschehen muss (entweder schnell oder langsam), muss man über Langzeitfolgen gar nicht diskutieren, weil die Bevölkerung sich sowieso anstecken wird. In der Schweiz wird es keine Impfung vor Herbst '21 geben und der Marathonläufer, den du ansprichst, wird nicht als Erster geimpft.
Ehrlich finde ich hier, dass die Schweiz (und die EU) beim Impfstoff total versagt haben. Die USA haben den groessten Teil der Massnahmen verpennt und die Reaktion, gerade am Anfang, war ein Desaster. Aber Operation Warp Speed war etwas, wo die Regierung wirklich auf die Experten gehoert hat: man baut die Kapazitaeten fuer den Impfstoff aus, beginnt mit der Produktion, und wenn es nichts ist, dann hat man halt etwas Geld verloren. Wesentlich weniger als ein shutdown kosten wuerde.
In den USA erwartet man ueber 200 Millionen Dosen bis Ende Jahr. Man geht von 2 Impfungen pro Person aus, also genug um einen Drittel der Bevoelkerung zu impfen. Wahrscheinlich wird man auch hier Risikogruppen bevorzugen wollen... nur wie soll das gehen? Man wird kaum pruefen, ob jemand nun wirklich Diabetes hat... da ist das Modell "first come, first served" logistisch einfach viel einfacher. Und wenn gesunde Leute sich impfen lassen, dann geht das Infektionsrisiko bei den Risikogruppen ja auch zurueck.
Die Schweiz hat mehr Geld pro Kopf als die USA und wir sind weltweit fuehrend in der Pharmabranche. Null Grund warum der Impfstoff hier nicht am gleichen Tag wie in den USA haette verfuegbar sein koennen.
Zu den Punkten mit dem exponentiellen Wachstum bin ich einverstanden. Aber ich hätte jetzt zB gerne eine Analyse mit der Hilfe des FB-Graphen gesehen.
Der Nutzen von FB-Graphen und anderen Methoden ist eher, dass man bessere lokale Prognosen machen kann. Siehe z.B. diesen Artikel:
https://www.theguardian.com/world/2020/ ... tudy-finds
Man weiss so etwas frueher, welche Spitaeler wohl eher an die Kapazitaetsgrenzen kommen. Es gibt mehrere Modelle, die die "Wellen" vorhersagen, die natuerlich nicht exponentielles Wachstum sind und die ein einfaches Modell natuerlich nicht erfassen. Also da macht man Annahmen, wann gewisse Einschraenkungen getroffen werden und wie diese sich auf die Ausbreitung auswirken.
Regierungen haben intern noch bessere Daten. Wenn ich mich richtig erinnere hat die Schweiz Daten von Swisscom bezogen. In den USA werden die Daten von Marketingfirmen gekauft, die gleich alle Mobilfunkanbieter abdecken. Ziemlich offensichtlich, dass alle Regierungen etwas in der Art machen und das einfach nicht publik ist.
Aber das Problem ist vielmehr, dass solche hyper-lokalen Informationen eher verwirrend als nuetzlich sind. Man koennte theoretisch andere Regeln fuer Bottmingen erlassen als fuer Reihnach... aber dann hat man ein riesen Kommunikationsproblem. Zudem wuerden die Leute ihr Verhalten anpassen: dann geht man mit dem Tram halt etwas weiter ins Restaurant. Unter dem Strich hat man also nicht viel davon. Der groesste Nutzen ist eher zu sehen, in wie weit sich die Mobilitaet nach dem Ergreifen von Massnahmen tatsaechlich einschraenkt... und welche Bevoelkerungsgruppen oder Regionen sich nicht ganz an die Regeln halten.
Dazu kommt, dass bei Softwareprojekten grosse Komplexitaet eher ein Hinderniss ist -- besser weniger genaue Modelle, die immerhin richtig laufen. In England, z.B., haben die Helden ihre Daten als .xls File gespeichert. Das alte Excel Format hat ein Maximum von rund 65,000 Reihen. Dauerte dann ein paar Tage bis jemand gemerkt hat, was da los ist und warum man etwa 16,000 COVID Faelle verpasst hat:
https://arstechnica.com/tech-policy/202 ... -by-15841/
Bei sehr komplexen Modellen ist es auch viel schwerer zu sehen, wenn etwas wenig Sinn macht. Hier ein Beispiel zum 538 Modell der Praesidentschaftswahlen.
Sehr viel einfacher als ein COVID Modell, und ganz klar absurde Projektionen, die rauskommen, obwohl alles auf eine Reihe von vernuenftigen Annahmen basiert:
https://statmodeling.stat.columbia.edu/ ... -forecast/