Aficionado hat geschrieben: 30.05.2022, 16:13
Sehr gut auf den Punkt gebracht. Trifft natürlich alles zu was du schreibst. Kann ich alles so unterschreiben. Aber wieso ist die USA besonders von diesen Amokläufen betroffen?
Deine «soziologische Analyse» trifft doch aber auch auf andere Länder zu wie z.B. die Schweiz? * Hier wirst du schon als unfreiwilliger Aussteiger wie der letzte Dreck behandelt. Verlierst deine Bekannten, Freunde, wenn du dich vom System verabschiedest (oft völlig unverachuldet). Hier identifiziert man sich über den Beruf resp. Ausbildung.(eher noch stärker als in USA).
Ich glaube nicht, dass es einen monokausalen Faktor gibt, sondern dass viele Faktoren eine Strudel verursachen, bei der sie sich gegenseitig und die allgemeine Sogwirkung sogar verstärken.
Das Sozialsystem ist hier engmaschiger. Das Vertrauen, dass der Staat und somit die Gesellschaft, die eigene Existenz zumindest vor der Auslöschung retten würde (auch wenn die Umstände alles andere als rosig sein würden), ist hier höher als vergleichsweise in den USA. Etc.
Dichte an Gewaltverbrechen, Sozialsystem, Gesundheitssystem, Diskriminierung, Polarisierung, Verfügbarkeit von Waffen, sind zwar alles Faktoren, welche auch bei uns einen Grad an Ungerechtigkeit aufweisen, aber im Vergleich zu den USA bei uns eher die Lebensbedingungen verschlechtern, als die eigentliche Existenz direkt bedrohen. Die Normalisierung der Ungerechtigkeit (Zerfall der Ethik) mit krass weitreichenderen Konsequenzen halte ich in den USA für weiter vorangeschritten. Mit der Erschiessung bei einer Verkehrskontrolle oder dem negativen Entscheid auf eine Jobbewerbung rechnen zu müssen, weil man eine dunkle Hautfarbe hat, ist zwar in beiden Fällen ungerecht, aber doch ein ganz gewaltiger Unterschied bezüglich der damit verbundenen unmittelbaren Existenzangst. Auch wenn schlechtere Jobaussichten im erweiterten Kontext langfristig die Aussicht auf eine kriminelle Laufbahn fördern und dadurch auch zu mehr gesellschaftlichen Vorurteilen verbunden mit mehr Angst und schlussendlich einer grösseren Gefahr bei der Verkehrskontrolle führen … die zeitliche Dimension, welche dazwischen liegt, sorgt für weniger Anspannung.
Was ich aber bei allen Faktoren feststelle ist, dass der jeweilige Anspruch an die eigene und gesellschaftliche Ethik darüber entscheidet, ob sich ein Strudel weiter verstärkt (Zerfall der Ethik) oder eine Gegenströmung initiiert (Restoration der Ethik).
Also kämpft man dagegen an, dass es (unethische) Amokläufe gibt, indem man die Ursachen angeht (und Ethik wiederherstellt) oder nimmt man schlicht hin, dass es Amokläufe gibt (anerkennt quasi den Verlust an Ethik) und verringert nur deren Auswirkungen mit mehr Sicherheitsmassnahmen.
Es ist also die Frage, wie ethisch/unethisch eine Lösung mit Waffengewalt betrachtet wird. Und da unterscheidet sich Europa doch massiv von den USA.
Aficionado hat geschrieben: 30.05.2022, 16:13Faktoren die einer psychischen Krankheit entgegenkommen sind:
- Genetik (Gehirn)
- Erziehung
- Umfeld (null Wertschätzung, Mobbing, soziale Ausgrenzung, gesellschaftlicher Druck,..)
Wenn nun eine bestimmte Konstelation zwischen diesen drei Faktoren gegeben ist, wirds sehr brenzlig. Fehlt aber einer dieser Faktoren, kann schlimmeres vermieden werden.
Ich glaube, dass die Epigenetik recht gut die Verbindung dieser drei Faktoren umschreibt. Die nötige Resilienz könnte meiner Ansicht nach auch auf einem einzigen dieser drei Faktoren gründen. Dieser müsste dann halt verhältnismässig stark ausgeprägt sein. Worin ich aber einig bin ist, dass alle drei Faktoren Einfluss auf die psychische Balance haben und dass auch ein einzelner davon zum Verlust dieser Balance führen kann.
Aficionado hat geschrieben: 30.05.2022, 16:13Das Videogame Argument stimmt natürlich. Nicht jeder isolierte Tag- und Nacht-Gamer entwickelt sich zum Psychopathen.
Mit dem gleichen Argument kann aber auch die Waffenlobby argumentiefen: Eine Waffe macht noch keinen Täter.
Aber oftmals ist es halt schon, dass überaktive Gamer einem sehr bescheidenen physischen Umfeld angehôren und sich vermehrt abschotten. Dies führt über kurz oder lang zu einer sozialen Isolation. Dieser Prozess kann in beide Richtungen verlaufen: Zuerst Abschottung, dann Cyberwelt oder zuerst Cyberwelt, dann soziale Abschottung.
Viele Jugendliche HC-Gamer gehen weder in einen Verein noch treffen sie sich physisch mit Kollegen. Das Spiel bestimmt ihr Leben. Ich kenne ziemlich viele solcher Jugendlichen. Kommunikativ sind die eher schwach. Es fehlt ihnen an Selbstbewusstsein, sind unselbstständig, sprechen komisches Wirrwarr, oftmals ist nicht klar, ob sie nun aus ihrer Cyberwelt erzählen oder doch aus der Realität.
Es entsteht bei sozialer Ausgrenzung ein Hass auf die Gesellschaft und mit Hilfe von ethisch inakzeptablen Games kann man sich anfänglich auch noch damit abreagieren und verliert dabei immer stärker die Hemmschwelle zu richtigen Waffen. Wenn du stattdessen einsam rudern gehst, so lebst du immerhin noch in der Realität und kannst diese von der Cyberwelt trennen.
*Nachtrag
Ja ok, USA 331 Mio vs CH 8.5 Mio. Aber auch gesamteurop. passieren weniger Amok Vorfälle als in USA. Da könnte schon die Waffeneuphorie in USA (alles überall für jeden erhältlich) den Unterschied ausmachen.
Ich kenne sehr universell sozialkompetente Gamer (die können mit allen), solche welche mMn eine sehr starke Spezifizierung in ihrer Sozialkompetenz aufweisen (zB nur gegenüber anderen Gamern/Nerds) aufweisen und solche welchen ich generell mehr Training ihrer Sozialkompetenz anraten würde, da ich Vereinsamungstendenzen feststelle. Ja, den Erwerb dieser Sozialkompetenz erlernt man im realen Umgang mit echten Menschen zB in einem Verein. Aber diese soziale Unbeholfenheit liesse sich doch zB auch auf Onlinedating und vieles mehr übertragen?
Bezüglich Rudern.
Ein ehemaliger Schulfreund von mir, gelangte über sozialen Rückzug in seine sportlichen Aktivitäten leider auch an den Punkt, dass seine «Gesellschaftsinkompatibilität» nun als psychische Erkrankung gilt. Ein tragischer Fall. Er lebt zwar in der Natur der richtigen Welt, aber kann trotzdem keine «normale» Beziehungen zu Menschen mehr führen.
Bezüglich Ethik eines Spiels.
Die meisten Kinder und Jugendlichen können Spiele sehr gut abstrahieren und sehen darin nicht zwingend Waffengewalt als Konfliktlösungsstrategie. Dazu müsste es auch einen narrativen Kontext geben.
Ich habe als Kind auch das kolonialistische «Cowboys und Indianer» gespielt und auf unethische Weise mit Käpselipistolen und Pfeil und Bogen das jeweilige Feindbild «getötet».

Damit will ich nicht sagen, dass Enteignung/Völkermord ethisch korrekt wären. Aber, dass dieses «Indianerlis» nicht die Ursache einer Gewaltspirale oder die Normalisierung der Gewalt, respektive den Zerfall der Ethik befördert. Im Gegenteil. Ich habe mich für die Gründe dieses Konfliktes interessiert, den ich da gerade gespielt habe und mich eher auf die Seite der Indianer geschlagen. Und so fussen auch viele Games auf Stories, welche moralische Fragen aufwerfen.
Entscheidender halte ich die Frage, ob Gewalt in einem narrativen Kontext verherrlicht, normalisiert oder verurteilt wird. Weniger relevant halte ich die Frage, wie explizit sie dargestellt wird (das wäre eher eine Frage dafür, wie altersgerecht das Medium ist). Eine sehr spannende Auseinandersetzung mit der Gewaltethik hat zum
Rockstar mit «Red Dead Redemption II» gewagt. Das ist ein Spiel, welches ich meinem Neffen durchaus anraten würde, weil es Diskussionen anregt. Wichtig halte ich, dass man bereit ist, Fragen zu stellen oder auf gestellte Fragen einzugehen. Was bei einem Spiel zum 2. WK vielleicht noch einfach wäre (Nazis böse), kann bei einer moralisch komplexen Fantasy Welt wie zB «Game of Thrones» (mangels Beispiel einer Game-Welt) ganz schön kompliziert werden. Aber das Schöne dabei ist ja, das man Grundsatzfragen einfach beantworten kann und die Komplexität der Hintergründe laufend steigern oder reduzieren kann. Und wenn es eher ein Battle-Royal-Shooter ohne eigentliche Story ist, dann ist
Abknallen auch keine Konfliktlösungsstrategie, sondern die Regel des Spiels, also eher mit «Fangis» vergleichbar.
Ich halte den Zerfall der Ethik in der realen Welt für das Problem und die Repräsentation in Spielen und Filmen für den Ausdruck der realen Entwicklung, nicht für deren Antrieb. Ich sehe in der (auch spielerischen) Auseinandersetzung damit also eher ein Chance.
Jemand, der kaum positive menschliche Interaktionen kennt und sein Wissen zu Schach aus Büchern und gegen Computer verfeinert, kann die Abstraktion dieses Kriegsspiel in seine künftigen menschlichen Interaktionen einfliessen lassen und kann zum berechnenden Psychopathen mutieren. Jemand mit genügend positiven Erfahrungen mit Menschen wird auch durch das unethische Kriegsspiel Schach nicht zum Psychopathen mutieren, selbst wenn er nur gegen Schachcomputer spielt. Und wer gegen Menschen im Schachclub spielt, sieht dass die Beziehungsstrategien eines anderen Spielers völlig losgelöst von dessen Strategien auf dem Spielfeld sein können. Insofern kann eine spielerische Konditionierung durchaus problematisch sein, aber ich sehe keine Gefahr in einer schnelleren Reaktionszeit mit Maus oder Gamepad.
Ich bleibe dabei. Der Umgang mit Menschen ist essentiell.
Womit ich nicht widersprechen will, dass Gamen zu weniger Umgang mit Menschen führen kann.