Die vier wegen Bedrohung, Manipulation und versuchter Erpressung inhaftierten Capi der u201EIrriducibili Laziou201C - Fabrizio Toffolo, Paolo Arcivieri, Yuri Alviti und Fabrizio Piscitelli - haben nach knapp drei Wochen ihren Hungerstreik abgebrochen, u201Edamit dieser keine Art von moralischer Erpressung darstelltu201C. Die Ultras haben dies auf einer Pressekonferenz mitteilen lassen, an der auch mehrere Politiker, die sich allgemein für verkürzte Untersuchungshaftzeiten aussprachen, teilnahmen.
Während die Lazio nach den Wirren des Sommers - als dem Verein aufgrund der Verwicklung in den Skandal der Zwangsabstieg drohte - und dem durchwachsenen Saisonbeginn nun langsam in aus sportlicher Sicht ruhigere Gewässer zu gleiten scheint, bleibt es in der Fanszene also überaus turbulent.
In krassem Gegensatz zueinander stehen dabei die streikende Curva Nord und der u2013 wenn auch zumeist nur spärlich gefüllte u2013 Rest des Stadions: Erstere bekämpft weiterhin Vereinspräsident Lotito, denn dem Mitprotagonisten des Fußballskandals wird bereits seit der Vorsaison eine mangelnde sportliche Perspektive vorgeworfen, und zeigt sich mit den Inhaftierten solidarisch. Beim Heimspiel gegen Cagliari unmittelbar nach den Verhaftungen Mitte Oktober blieb die Kurve die komplette erste Halbzeit leer. Der Rest des Stadions beklatscht hingegen die zuletzt sehr ansprechenden Leistungen der Mannschaft und applaudiert dem Vereinschef.
Über die moralische Integrität Lotitos nach dem vergangenen Sommer mag man denken wie man will, liest man sich jedoch die Untersuchungsberichte über die Vorfälle in der Curva Nord durch, drängen sich ernsthafte Zweifel auf, ob die vier angeklagten Irriducibili-Mitglieder tatsächlich nur u201Eschuldig sind, die Lazio zu liebenu201C, wie sie und ihre Gruppe behaupten.
Zunächst einmal bestätigt sich, was in italienischen Ultrakreisen schon lange ein offenes Geheimnis war: Die 1987 gegründeten Irriducibili Lazio, die trotz ihres martialischen Auftretens auswärts häufig nur recht schwach vertreten sind, ähneln eher einem Wirtschaftsunternehmen, als einer traditionellen Ultragruppe, was ein Ergebnis der Geschehnisse während der Amtszeit von Lotitos Vorgänger Sergio Cragnotti ist: Auch gegen diesen protestierte die Gruppe zunächst u2013 scheinbar ebenfalls wegen sportlichen Misserfolgs, tatsächlich aber um finanzielle Vorteile für sich zu u201Eerpressenu201C, was dann mit der Gründung der Marke u201EOriginal Fansu201C auch gelang. Fortan vertrieben die Irriducibili in ihren 15 Fanshops praktisch den gesamten Fanartikelbereich des Vereins, von Schals und Fahnen über T-Shirts bis hin zu einer eigenen CD. Doch unter der früheren Vereinsführung konnten sich die Gruppenköpfe nicht nur aufgrund von u201EOriginal Fansu201C persönlich bereichern: Aus dem beschlagnahmten Briefmaterial resultiert, dass die Gruppe Woche für Woche 2.500 Freikarten erhielt u2013 die sie dann zum regulären Kartenpreis weiterverkauften.
Die Choreographien wurden komplett vom Verein bezahlt; fast eine Million Euro veranschlagten die Irriducibili laut Quittungen allein dafür, etwa 25.000 Euro pro Spiel. Die nächsten Ziele der Gruppe waren, den Sicherheitsdienst im Stadio Olimpico und die Organisation der Reisen zu Spielen im Ausland für die Mannschaft zu übernehmen. Als der bankrotte Cragnotti den Verein jedoch abgeben musste, veränderten sich die Beziehungen der Gruppe zum Verein: Nachfolger Lotito - zunächst noch als u201ERetteru201C gefeiert, da er den Club vor dem finanziellen Ruin bewahren konnte - vermied jeden Kontakt und jede finanzielle Unterstützung für die Ultras und stellte diesen auch keine Gratistickets mehr zur Verfügung.
Schon bald geriet der neue Präsident seitens der Kurve in die Kritik und wurde in Spruchbändern und Sprechchören angegriffen. u201EMit Lotito gibt es keine Zukunftu201C, schrieben die Irriducibili und warfen ihm vor, zuwenig Geld in die Mannschaft zu investieren u2013 tatsächlich waren sie wohl eher um ihre eigene finanzielle Zukunft besorgt. In den mitgeschnittenen Telefongesprächen äußerten sich die nun Inhaftierten expliziter: u201EDie Geschäfte laufen nicht mehru201C, klagte Piscitelli und besprach mit Toffolo die Schwierigkeiten, nun Choreographien zu organisieren, während Alviti das Überleben der Gruppe durch die ausbleibenden Freitickets gefährdet sah. Auch die massiven Drohungen, denen Lotito sich und seine Familie ausgesetzt sah, spiegeln sich in den Telefonaten wider.
Die Hoffnung der Irriducibili richtete sich nun darauf, dass Giorgio Chinaglia, Kapitän und Ikone der Meistermannschaft von 1974, den Verein übernehmen und Lotito als Präsident ablösen würde. Der ehemalige Stürmerstar versuchte, die Lazio-Aktien aufzukaufen, präsentierte (gefälschte) Gutschriften über insgesamt 20 Millionen Euro. Durch die in Gang gesetzten Gerüchte, nach denen ein ungarischer Investor den Verein angeblich übernehmen wolle, begann die Lazio-Aktie heftig zu schwanken und um den Druck auf Lotito noch zu verschärfen, bedienten sich Chinaglia und seine Komplizen eben der Irriducibili, denen sie sogar Protestspruchbänder gegen Lotito bezahlten.
Bisherigen Vermutungen zufolge waren geplante Geldwäscheaktionen Hintergrund der beabsichtigten Übernahmeaktion. Außer sofortigen finanziellen Zuwendungen wurde der Gruppe von Chinaglia Aussicht auf enorme zukünftige Gewinne gemacht. Während bei den vier Capi jedoch am 13. Oktober die Handschellen klickten, konnte der Haftbefehl gegen Chinaglia nicht ausgeführt werden: Er war bereits in die USA ausgereist.
Seitdem befindet sich die Curva Nord, wie bereits erwähnt, im Streik. Unabhängig vom ungewissen Ausgang der Angelegenheit, den Fragen, ob die wochenlange Untersuchungshaft gerechtfertigt ist, ob Lotito Präsident bleibt und ob die Inhaftierten bald wieder in die Kurve zurückkehren können, ist zumindest ein starker Zweifel angebracht, ob die Irriducibili zukünftig überhaupt noch glaubhaft Stellung gegen den u201Emodernen Fußballu201C und dessen Kommerzialisierung beziehen können.
u201EDie wahre Lazio u2013 das sind wiru201C, schreibt Andrea Arena, ein Veteran aus den 80er Jahren, der Zeit, als die Curva Nord noch als eine der innovativsten und originellsten Kurven des Landes galt, in seinem Buch u201EIo Ultrasu201C und bezieht sich damit eben nicht auf die organisierten Gruppen, sondern auf die Leute, die seit Jahren den Verein auch auswärts unterstützen und die wirklich in der Serie B mit u20139 Punkten Strafe mitfuhren u2013 ohne Freitickets und ohne Irriducibili-Mitgliedschaft. Es liegt nun an der Curva Nord selbst, ob die momentane Krise vielleicht zu einem Aufbruch und zu einer Rückbesinnung auf alte Werte genutzt werden kann. (Stadionwelt, Matthias Bürgel, 23.11.2006)
Lazio-Ultras beenden Hungerstreik
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